Vancouver

30. September 2009
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Dienstag, der 29. September

Neue Turnschuhe wollen ausprobiert werden. Also bin ich ins Community Centre „um die Ecke“ gepilgert. Das ist eine Art „Volkshochschule für Sport“, mit Gemeinschaftsgeldern gebaute Mehrzweckturnhallen in jedem Stadtviertel mit überaus bezahlbaren Sportkursen. Ich dachte, ich wäre im Aerobic-Kurs, es war Cardio-Gymnastik für die über-55-Jährigen. Wow! Shirley, Mary und Siboan nahmen mich sofort mütterlich in ihre Mitte und dann gings los: rechtes Bein hoch, linkes Bein hoch, Arme anwinkeln, Arme zur Seite, zwei Schritte nach links, zwei nach rechts und alles im Takt, bitteschön, und auf Englisch. Und Atmen nicht vergessen. Die 50 Rentner hatten ihren Spaß, ich nicht.
Dafür gab es am Mittag den ersten Schnee zu sehen: Die Regenwolken verzogen sich und die Sonne ließ kurz einen schneebedeckten Grouse Mountain aufblitzen.

Montag, der 28. September
Die Begeisterung für Sport hält trotz Kajak-Muskelkater an und deshalb pilgern wir zu einem der großen Sportausstatter. Das ist eine „Kooperative“ – man bekommt zwar keine großen Namen, dafür gute Ware. Hofften wir. Ich wollte Turnschuhe. Zielstrebig steuern wir also die Schuhabteilung an. Es gibt mehrere Regale. Und einen Verkäufer. Ich griff nach dem Sonderangebot, er mustert mich abschätzig und fragt, ob ich laufen wolle. Hm. Ja. „Wo?“ Tja, wo läuft man denn so? Es gibt Schuhe zum Walken, joggen, rennen, laufen, schnell laufen, Marathon Laufen, auf den Berg hoch laufen, den Berg wieder runter laufen, gar nicht laufen sondern Yoga machen. Es folgen minutenlange und sehr demonstrative Ausführungen des chinesischen Verkäufers, dann drückt er mir ein Paar superschicke und superteuere „Multifunktionsschuhe“ in die Hand – geeignet zum Rennen für kurze Strecken auf Zement und längere Strecken auf harten Untergrund wie Bergen oder ausgetrockneten Flussbetten. Ich kann mich nicht erinnern, schon jemals durch ein ausgetrocknetes Flussbett gerannt (!!!) zu sein, ich gehe da eher – mit Wanderschuhen. Ich bin überfordert von diesen Schuhen und stammle hilflos „Pilates“. Er guckte mich entgeistert an – in der Turnhalle trägt man doch völlig andere Schuhe. Und das hier sei ein Outdoor-Laden! Damit war für ihn das Thema beendet. Er dreht sich um und lässt uns stehen. Meine Freundin verdreht die Augen und will die Aktion abbrechen, ich, den Tränen nahe, ziehe sie verzweifelt in die Abteilung mit den Rucksäcken, wo wir uns ganz ohne störende Beratung einen aussuchen und die Kaffeepause des Schuhverkäufers abwarten. Kaum ist er weg, schnappe ich mir den kleinen südamerikanischen Kollegen, verrate ihm nicht, wofür ich die Schuhe will, sondern lasse mir nur alle Turnschuhe in meiner Größe bringen. Gewonnen! Er ist zwar etwas irritiert von meiner wortkargen Art bezüglich des Verwendungszweckes, berät mich aber in Bezug auf Passgröße und Komfort hervorragend – und ich habe ein Paar. Hurra!

Sonntag, der 27. September
Die Literaturszene lebt! An diesem Sonntag ist in Vancouver „Word on the Street“, eine kleine lokale Buchmesse. Fast alle „Buchmenschen“, die wir auf der gestrigen Party kennengelernt haben, lasen – und wir applaudieren enthusiastisch! Außerdem lernen wir nette Verleger kennen, werden zum Essen eingeladen und „knüpfen Kontakte“ – ich bekomme fast ein wenig sentimentale Sehnsucht nach Frankfurt. Einer der Verleger erzählt uns, dass die Buchmesse in Toronto in diesem Jahr erstmalig wegen mangelnder Beteiligung ausfällt. Bei dieser Literaturbegeisterung der kanadischen Leser kann man sich das kaum vorstellen – wahrscheinlich ist es jedoch der Dominanz des amerikanischen Marktes geschuldet (und auf einem einsprachigen Kontinent lohnt ja auch ein Lizenzmarkt nicht).

Samstag, den 26. September
Wir treiben Sport! Wir haben uns zum Kajakkurs angemeldet. Klar, Kajak bin ich auch in Deutschland schon gefahren, aber das war im Spreewald, das Wasser war nie mehr als hüfthoch und das Ufer erreichte man auch nach dem zweiten Bier noch locker. Hier paddelt man auf dem offenen Meer, untersteht der Canadian Coast Guard (der Küstenwache) und braucht nicht nur die richtige Ausrüstung, sondern sicher auch noch irgendein Zertifikat. Es war der letzte Paddelkurs im Jahr und das Wetter entsprechend kühl. Bei den Erklärungen am Ufer machte mir das nichts aus, als unsere vier Kajaks (ja, mehr waren wir nicht!) aufs Wasser hinausgingen, frischte der Wind kräftig auf. 14 Knoten (26 km/h), später waren es sogar 26 Knoten (52km/h). Eigentlich dürfen Kajaks nur bis 10 Knoten raus, aber, „hm, wir könnten ja in eine etwas windgeschützte Bucht gehen“, schlug die Lehrerin vor. Schließlich war es der letzte Termin in dieser Saison. Also schleppten wir tapfer unsere Boote in die nächste Bucht. Das uns jemand eine Sturmwarnung zu brüllte, ignorierten wir genauso wie die Drachenboote, die in dieser Bucht einen Wettkampf hatten. Wir übten Paddelschläge! Und davon konnte uns nichts abhalten, nicht mal die Küstenwache, die ab und an gekenterte Drachenboote oder stümperhafte Surfer aus dem Wasser zog und uns wie eine Meute hungriger Haifische umrundete. Spaß hat es gemacht!
Danach gab`s noch eine Party – mit echten Schriftstellern, kanadischen Burgern und chilenischem Rotwein. Von unserem „Abenteuer“ war allerdings niemand sonderlich beeindruckt: Rafting im Wildwasser, das ist echtes Adventure! Und wenn dann noch eine armdicke Giftschlange durchs Wasser gleitet …


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26. September 2009
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Donnerstag, den 24. September

Meine Freundin treibt Sport. Während ich zuhause am Computer sitze, mir Sorgen mache und mit professioneller Hilfe aus Deutschland Visitenkarten bastele, wirft sie Jungs auf die Matte und geht anschließend mit ihnen Bier trinken. Natürlich laden die Jungs sie ein. Zum Bier und zum PEARL JAM Konzert. Einer kennt den Gitarristen oder so und irgendjemand kann nicht und für das morgige, total ausverkaufte Konzert mit Ben Harper als Vorband gibt es plötzlich eine Freikarte. Sie stahlt. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, und murmle, dass ich das nächste mal auch mit will. Klar, kein Problem, das nächste Konzert ist nächsten Mittwoch, da spielt dann der, der sie eingeladen hat. Der hat auch ´ne Band und ´nen Auftritt – und, ach so ja, mit den Chili Peppers ist er auch befreundet. Spielen DIE auch in Vancouver? Ich will auch mal Sport machen!!!


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23. September 2009
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Dienstag, 22. September
Ein großer Tag
Wir stehen früh auf, positionieren uns an strategisch wichtigen Punkten in der Wohnung (eine mit dem Blick zum Fenster, die andere mit dem Fokus auf die Tür) und verharren die nächsten Stunden still und konzentriert auf unseren Posten.
Am frühen Nachmittag klopft es fast unhörbar: Der Mann von der Telefongesellschaft steht tatsächlich vor unserer Tür! Er legt entlang der Innenwände unsere Wohnung einmal mit Kabel aus, veranstaltet im zweiten Zimmer einen mittelgroßen Kabelsalat – und installiert Telefon und Internet. Wir sind beglückt und wecken sogleich eine Freundin mit einem nächtlichen Anruf in Deutschland …
Am Abend gibt es dann noch eine Glückwunschmail vom russischen Studenten.


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22. September 2009
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Montag, 21. September

Unerwartet!
Es flattert eine Nachricht von VANOC, der Veranstalter der Olympischen Spiele, in meinen Briefkasten: Ich habe die Akkreditierung für die Veranstaltung zum Start des Fackellaufes auf Vancouver Island! Awesome!, wie der Kanadier jetzt jubeln würde.
Die Nachricht kommt zwar einen Monat später als angekündigt, aber das soll die Freude jetzt nicht schmälern.
Meine Freundin hofft, dass es dann mehr zu sehen gibt als „das olle Plastikteil“, wie sie die Fackel respektlos nennt. Denn die hatten wir ja schon bei unserem letzten Besuch in Victoria in der Hand…


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22. September 2009
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Sonntag, 20. September

Es ist der letzte Tag des Theaterfestivals „Fringe“ und mutig wagen wir uns erneut in eine Show. Wie die Tage zuvor, werden auch diesmal wieder vor der Show (für die man 15 Dollar Eintritt bezahlt) Spenden gesammelt: Zu Beginn des Monats hat die Regierung des Bundesstaates British Columbia beschlossen, die Fördergelder für Kunst und Kultur um 85-90 % zu kürzen. Die Folgen sind kaum vorstellbar – es käme einem Exodus der unabhängigen Kunst gleich. Man protestiert mit Demonstrationen, ruft die Bevölkerung zu E-Mail-Aktionen auf und sammelt Spenden.
Das perfide Argument der Regierung ist, so steht es in der Zeitung zu lesen, dass man sparen muss. Würde man nicht an der Kunst sparen, müsste man bei der Kinderversorgung und der Hilfe für geistig Behinderte kürzen. Perfide ist dieses Argument deshalb, weil sich natürlich kein Künstler nachsagen lassen will, dass er diesen beiden Gruppen das Geld streitig mache. Andererseits, so die Künstler, wird für diese beiden Gruppen ohnehin kaum etwas ausgegeben, also alles nur eine vorgeschobene Begründung.
Auf jeden Fall, das ist zu spüren, steht die „Kunst“ auf der Kippe – Festivals wie das „Fringe“, die lateinamerikanischen Kulturtage (letzte Woche) oder auch kleine Museen wie das Stadtmuseum von Fernie (ein Dorf in den Rockies) dürften, werden die Kürzungen tatsächlich umgesetzt, vor dem „Aus“ stehen.

Sonnabend, 19 September

KULTURSCHOCK ist, wenn man das dringende Bedürfnis hat, sich die Decke über den Kopf zu ziehen.

Wir waren im Theater. Es kam „Red Bastard“. Die Show war ausverkauft, wie alle Shows von „Red Bastard“. Das ist, der Name verrät es bereits, ein „rotes Monster“ – der Mann trug einen knallengen, kirschroten Ganzkörperanzug, der an den entsprechenden Stellen mit großen Bällen ausgepolstert war (Bauch, Po, Hüften). Das sollte lustig aussehen, das Publikum grölte bereits beim ersten Auftritt. Mr. Red Bastard berührte sich, was wohl irgendwie sexuell wirken sollte, und forderte das Publikum zu allerlei Mitmachaktivitäten auf: Aufstehen, Hände heben, „Zweiundfünfzig!“ rufen, mit dem Nachbarn die Plätze tauschen, usw. Beglückt machte das Publikum mit, folgte seinen Anweisungen, lachte, applaudierte, ließ sich befragen, antwortete. Die Begeisterung schwappte durch die Halle. Wir waren augenscheinlich die einzigen, die es nicht lustig fanden. 300 Kanadier hatten ihren Spaß.
Doch wir gaben nicht auf und gingen danach gleich noch ins nächste Stück: „Lavignia“. Das Theater war kleiner, aber wieder ausverkauft. Der Plot handelte von einem übergewichtigen, riesigen Mädchen, die gerne Balletttänzerin werden möchte, dafür aber zu ungeschickt ist. Sie wird abgelehnt, rennt weg und das Ganze wird zu einer „Tour der Selbsterkenntnis“ – und am Ende wird sie zur großen Tänzerin. Wow! Lebe deinen Traum, und er wird wahr. Wir waren überfordert von soviel Kitsch, das Publikum tobte. Und auch in diesem Stück eilten die Mitmachfetischisten auf die Bühne, zeigten Tanzschritte, lasen Textpassagen. Der Qualität der Aufführung diente es nicht unbedingt, dem „Wir-Gefühl“ der Kanadier sicher. Sie waren begeistert, wir rieben uns verwundert die Augen: Was tun die da? Handwerklich mittelmäßig, die Story mehr als trivial, die „Botschaft“ an Kitsch kaum zu überbieten – und die Zuschauer jauchzen! Während die Kanadier noch in der letzten Runde applaudieren, wankten wir in eine Bar: Ich brauche ein Bier.
Danach gehen wir nach Hause, beide mit dem Gefühl, uns dringend noch einmal unserer deutschen Identität und kulturellen Werte versichern zu müssen. Im Internet sehen wir uns die wöchentliche Videobotschaft unserer Kanzlerin an. Während Angela Merkel ihre Ziele in Pittsburgh erläutert, ruckelt sich unser Weltbild so langsam wieder zurecht.

Donnerstag, 17. September

Die Vergangenheit ist nicht tot.
Sie lebt in uns fort…, schrieb Christa Wolf in ihrem Roman „Kindheitsmuster“. Und sie hat Recht, wie wir einmal mehr erfahren.
Wir versuchen, die zarten, auf der Straße geknüpften Kontakte zu intensivieren und mailen uns mit dem Radfahrer (siehe Eintrag vom 12.09.) und dem Deutschkanadier (Eintrag vom 13.09.). Dieser, nennen wir ihn „John“, empfiehlt uns einen Zeitungsartikel, und als ich Interesse bekunde, bietet er sofort an, ihn vorbeizubringen. Kurz darauf steht er vor unserer Tür. Dank Geduld, Beharrlichkeit und Insiderkenntnissen (wir wohnen in einem Hochhaus ohne Klingel!) schafft er es, zu uns vorzudringen – und wir sind begeistert: Unser erster Besucher!!! Wir bieten ihm einen der beiden Stühle, ein Glas Wasser und reichlich Schokolade an, er bleibt drei Stunden. Wir plaudern und er erzählt, dass die Vancouver Polizei seit ein paar Jahren neue Uniformen hat: sie sind schwarz. Diese sind unbeliebt und stießen von Anfang an auf Ablehnung, weil sie an SS-Uniformen erinnern. Ich zucke innerlich zusammen: Erinnert sich tatsächlich noch jemand an die? Hier, am anderen Ende der Welt?
Schnell wird klar, warum John an den Gesprächen mit uns interessiert ist: Er ist auf der Suche nach seinen Wurzeln. Seine Eltern haben Deutschland in den 50er Jahren verlassen, sie haben nicht über die Vergangenheit gesprochen und sie haben ihre Kinder nicht auf deutsch, sondern auf Englisch erzogen (und wohl auch teilweise die deutsche Identität verleugnet).
Jetzt, die Mutter ist bereits gestorben und der Vater 85, fängt der Vater an, über die Vergangenheit zu sprechen. Stückweise bricht es aus ihm heraus: Dass er fassungslos ist, nichts von Auschwitz, Hiroshima oder der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten gewusst zu haben. Und was den Sohn umtreibt ist, ob der Vater das wirklich nicht wusste, wirklich nicht gewusst haben konnte, denn der Vater war bei der Waffen-SS, Luftwaffe. Der Sohn will sich mit der Vergangenheit seines Vaters auseinandersetzen, wissen, was dieser tat (oder was nicht), und warum er es getan hat. Und endlich fängt der Vater an, über die Vergangenheit zu sprechen – doch er redet deutsch, eine Sprache, die der Sohn (er ist Übersetzer!) nicht versteht.
Ich merke, dass ich schnell ein Urteil zur Hand habe, und muss das doch im Laufe des Gespräches überdenken: Wenn man die Daten nachrechnet, war der Vater am Ende des Krieges etwa 19 Jahre alt. Ist man mit 19 schon erwachsen? Entschuldigt das Alter etwas? Erklärt es etwas? Ich bin ratlos und versuche zu erklären, dass die Auseinandersetzung mit der Generation der „Väter-Täter“ in Deutschland von den 68ern geführt wurde. Das ist (aus meiner Sicht) lange her. Vorbei. Abgeschlossen. Er kann nicht verstehen, dass für uns lange zurückliegt, was für ihn brandaktuell ist.
Und ich stelle fest, dass man hier noch über Fragen nachdenkt, von denen ich glaubte, mich mit ihnen nicht mehr auseinandersetzen zu müssen.


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17. September 2009
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Mittwoch, 16. September

Wir waren in einer Gruppensextherapie.
Keine Sorge, der Blog wird weiterhin jugendfrei bleiben. Ich dachte, ich könne für ein aktuelles Projekt recherchieren und außerdem wollen wir ja der kanadischen Seele auf die Spur kommen. Also haben wir uns gestern das Theaterstück „Daniel Packards Life Group Sex Therapie“ angesehen. Es war ein Mitmach-Stück. Die kanadischen Besucher haben vorher einen Fragebogen mit so lustigen Fragen wie: „Was ist ihnen an einer Beziehung wichtig?“ „Was halten Sie von Sex?“ „Was ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen?“ ausgefüllt, wir haben mangelnde Sprachkenntnisse vorgeschützt. In der Show des lokalen Radiomoderators Daniel Packard wurden die Antworten dann durchgenommen. Die Erkenntnisse des Abends beschränkten sich dabei auf „Frauen wollen eigentlich nur Sicherheit“, „Männer wollen Sex“. Hm. Okay. Kanada scheint sich also nicht allzu sehr vom Rest der Welt zu unterscheiden. Allerdings wären Shows zu diesem Thema mit Stephan Raab oder Daniel Letterman lustiger gewesen. Aber vielleicht kann Daniel Packard sich noch steigern.
Auf dem Heimweg muss ich noch mal telefonieren. In Deutschland ist es jetzt früher morgen, hier spät in der Nacht. Die Verbindung ist überraschend schlecht, ich muss laut reden, fast brüllen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält ein Wagen, ein Mann steigt aus, er lässt das Auto offen und kommt zu uns rüber. Ich bemerke es aus dem Augenwinkel, meine Freundin steht hinter mir (zur Sicherheit), sie redet mit ihm. Wie ich später erfahre, hat er ihr sein Handy angeboten, augenscheinlich taugt die öffentliche Telefonzelle ja nichts, so wie ich schreie. Sie lehnt ab, er bietet an, uns nach Hause zu fahren. Warum sonst sollten zwei Mädchen kurz vor Mitternacht von einer öffentlichen Telefonzelle aus telefonieren?
Ich will ein Telefon!
Im Laufe des Tages rufe ich noch einmal den russischen Studenten an, ich will ganz, ganz sicher sein, dass unser Installationstermin nächste Woche klappt. Er beruhigt mich. Ja, der Termin ist vorgemerkt, ja, der Installateur kommt zwischen 8 und 12 Uhr, er klingelt, installiert, es dauert 30 Minuten, alles kein Problem. Ich soll mich beruhigen. Stattdessen bekomme ich einen Panikanfall: Er klingelt? Wir wohnen in einem Hochhaus, die Gegensprechanlage ist an die Telefonanlage angeschlossen – wir haben also keine Klingel! Außerdem gibt es im Haus die strenge Auflage, niemanden, aber auch wirklich niemanden ohne Schlüssel hineinzulassen. Gestern ließ die Nachbarin noch nicht mal den Paketboten mit einem Päckchen für uns ins Haus! Ich erkläre dem russischen Studenten, dass unsere Klingel mangels fehlender Telefonanlage nicht funktioniert. Wer immer für die Installation kommt, muss laut rufen, Steinchen an unser Fenster werfen oder einfach den Hausmeister anrufen. Aber ob die Telefongesellschaft, die ja mangels Telefon noch nicht einmal einen Termin mit mir vereinbaren konnte, das leisten kann?
Werden wir hier ohne Telefon wirklich ein Telefon bekommen?
Ich bin aufgeregt.


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15. September 2009
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Dienstag, den 15. September

Geschätzte Leserinnen und Leser!
Um beim Lesen aufgetretene Fragen gleich an dieser Stelle zu beantworten: Nein, wir wissen nicht, warum Toni`s Nase angenäht werden musste (siehe Eintrag vom 12. September). Und er sah auch nicht aus wie ein Mann, den man danach fragen möchte. Er war Sizilianer, und zwar einer von der Sorte, wo man kurz überlegt, ob man wirklich in seinem Café einkehren will oder nicht doch besser in den Starbucks auf der anderen Straßenseite. Wir haben´s gewagt bei ihm zu bleiben, und Toni belohnte unseren Mut, in dem er sich in seiner Pause an unseren Tisch setzte.
Und dann noch seine Freunde dazuholte.
Ich möchte allen dreien nicht unbedingt nachts begegnen – oder wenn dann nur, wenn sie sich noch an unser freundliches Wesen erinnern 😉
Und auch das sei an dieser Stelle korrigiert: Es heißt natürlich COUSCOUS und die arabischen Würste nennt man MERGUEZ. (siehe Eintrag vom 26. Juli) Ich weiß, dass es so etwas Leckeres hier nicht geben wird!
Und auch das sei im Nachtrag noch erwähnt: Nein, der „Radfahrer“ (siehe 12. und 14 September) ist kein „junger Hund“ gewesen! Er war Anfang / Mitte 40 (da gehen die Meinungen etwas auseinander) und er verdient sein Geld (wie die Internetrecherche ergab) mit hochkarätigen Bankgeschäften weltweit … und ja, wir hoffe immer noch auf den Segeltörn!

Und außerdem, liebe Leserinnen und Leser, gibt es auch in diesem Blog die „Kommentar“- Funktion! Nutzt sie!
Mich interessiert, was euch interessiert! Worüber wollt ihr mehr erfahren? Worüber habt ihr am meisten gelacht?

Vielen Dank an euch alle fürs Reingucken!

Montag, den 14.September

Natürlich gab es noch am Sonntag per Mail eine Einladung vom Radsportler mit der Yacht. Zackig schlägt für den Sonntagabend noch das volle Programm vor: Spaziergang am Strand, Essengehen, Drink im Park zum Sonnenuntergang mit Blick aufs Meer. Das ist ja schlimmer als Bergsteigen!
Wir zucken zusammen, stellen ein paar Dinge klar und lehnen ganz freundlich ab, schließlich hab ich ja Theaterkarten. Er nimmt’s sportlich, und schlägt uns heute ein paar Museen vor. Ohne ihn. Er wird für die nächsten Wochen verreist sein, schreibt er. Aber vielleicht sieht man sich danach.
Ich denke an die Worte eines Freundes, der es als „interessantes Experiment“ bezeichnet hat, inmitten der unverbindlichen nordamerikanischen Mentalität eine „heimelige soziale Umgebung“ aufbauen zu wollen. Oja! Ins Gespräch kommt man hier schnell, vor allem mit Männern, doch „Nestwärme“ oder soziale Verbindlichkeit suche ich derzeit noch vergeblich. Der soziale Umgang ist definitiv ein anderer.


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12. September 2009
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Sonntag, 13.09.

Wir wachen früh auf, weil in der morgendlichen Stille jemand mit Flaschen vor unserem Fenster klappert. Obwohl Alkohol hier sehr teuer ist, hat einer unserer Nachbarn schon wieder eine Tüte voller Flaschen oder Dosen. Er gibt sie einem Obdachlosen. Es ist hier üblich, dass man sein Leergut nicht selbst wegbringt, sondern es den Bettlern überlässt. Wir schließen das Fenster und gehen in die Küche. Da fragt mich meine Freundin: „Und welcher der beiden war nun eigentlich der Bettler?“
Ich antworte: „Na, der mit dem Fahrradhelm.“ Ist doch klar: Der Bettler ist der mit dem Mountainbike, der Mitbewohner der mit den Hausschlappen.
Danach machen wir einen langen Spaziergang, und, wen wundert’s, wir bleiben nicht lange allein. Wir werden erneut von einem Deutschkanadier angesprochen, er möchte den Todestag seiner Mutter lieber in unserer Gesellschaft als allein verbringen. Wir laden ihn zum Kaffee ein – und stellen fest, dass er mit der Autorin des Buches, auf deren Lesung wir gestern waren, befreundet ist. Vancouver ist wirklich nicht groß.
Er erzählt uns, dass er sich mit 12 anderen Übersetzern bzw. deren Firmen bei VANOC, dem Ausrichter der olympischen Spiele, für Übersetzungsarbeiten während Olympia beworben hat. VANOC, die ja ohnehin schwer erreichbar sind und eigentlich auch auf keinerlei Emails oder Kontaktversuche reagieren, hätte sich immerhin zu einem telefonischen Interview bereiterklärt. Doch das war eher eine Farce: Alle Übersetzer sollten jeden Tag der Woche 24 Stunden erreichbar sein – und etwa 1 Million Wörter übersetzen! Eine komplett unverhältnismäßige Anforderung und eigentlich nur ein angenehmer Grund, sie ablehnen zu können. Man lässt Übersetzer aus Ontario einfliegen … Auch die lokalen Journalisten, so weiß er zu berichten, haben keine Chance, Kontakt zu VANOC aufzunehmen oder gar Informationen von ihnen zu bekommen. VANOC, so scheint es, ist ein „geschlossenes System“ – und die Stadt dient als hübsche Kulissen. Lokale Firmen werden wohl keinen nennenswerten Anteil an der Ausrichtung der olympischen Spiele haben.

Sonnabend, 12.09.

Wir gehen auf Schatzsuche beim „Garage Sale“. Eins haben wir schon gelernt, Vancouver mag sich als Weltstadt gebärden, im Grunde seines Herzens ist es aber ein großes Dorf – die Leute reden miteinander. Also plaudern wir mit den Verkäuferinnen, eine ist Schottin, und 15 Minuten und drei Lebensläufe später bekommen wir die Lampe unserer Wahl für 15 statt für 50 Dollar. Glücklich tragen wir sie nach Hause, um danach zu einer Buchvorstellung zu eilen. Auf dem Rückweg machen wir Halt in einem Café, um dort das Internet zu benutzen. Das Internet bricht immer wieder zusammen, dafür ist der Kaffee italienisch und gut. Außerdem lernen wir Achmed, Toni und Ron kennen. Toni ist Sizilianer und hat eine frisch angenähte Nase, Ron ist Deutschkanadier im Rollstuhl und erklärt uns sofort, wo wir Schwarzbrot, Quark und Holsten bekommen. Wir fragen, wieso er im Rollstuhl sitzt: Er war letztens mit dem Motorrad in der Antarktis, bei einem der „Stunts“ hat er sich das Knie verrenkt… Bis zum Skifahren sei aber alles wieder okay. Dann überlegen die drei, ob sie im Januar / Februar nicht nach Kuba fahren sollten – auf die „Olympics“ haben sie keine Lust: Es ist ein Event für die Touristen, für die es in der Stadt sowieso keinen Platz gibt. Sie maulen, dass es „viel zu eng und viel zu voll wird“. Freuen tut sich von denen trotz Sportbegeisterung niemand auf die Spiele.
Außerdem steigen nicht nur die Mietpreise drastisch, sondern es häufen sich die Geschichten, dass Wohnung auf Ende Dezember gekündigt werden – man kann sie ja prima für die Wintermonate an zahlungskräftige Olympiagäste weitervermieten. Im Internet sind die Mieten für Januar / Februar auf unglaubliche 20 bis 30.000 Dollar (pro Monat) gestiegen.
Am Abend gehen wir noch schnell am Supermarkt vorbei – und lernen schon wieder einen Mann kennen. Wir plaudern kurz über Deutsche ins Vancouver, das Wetter und die Stadt – und er fragt, ob wir mal was zusammen unternehmen wollten. Hm? Er schlägt „Essengehen, Tennis spielen oder Bergsteigen“ vor. Dann erzählt er, dass er am Abend die „American Open“ im Fernsehen sehen wird. Wir wiegeln ab, bevor er weiterreden kann, Tennis im Fernsehen ist wirklich nicht unser Ding. Und Bergsteigen mit einem Kanadier, der gerade mit seinem Rennrad und dem entsprechenden Outfit vor uns steht, auch nicht. Wir murmeln „paddeln“, er kontert mit „Yacht“ – und bekommt unsere Emailadresse.
Am Abend flitzen wir noch ins Theater – ein fantastisches Stück über Deutsche nach dem 2. Weltkrieg im Bannat. (Das sollte ich vielleicht zur Aufbesserung historischer Kenntnisse unserem Hausmeister empfehlen.)

Mittwoch, 9 September
Wir haben den Hausmeister lange nicht gesehen, dabei wollte er uns einen zweiten Schlüssel für unsere Wohnung geben. Er meint zwar, wir müssten nicht abschließen, es wäre eine absolut sichere Wohngegend, aber das will ich lieber nicht auf die Probe stellen. Also weisen wir ihn dezent daraufhin, und er kommt sofort: Er hat es vergessen und sei absolut ausgelastet. Wir haben Verständnis für seine Situation – und er erzählt uns eine wilde Verschwörungstheorie von Papst, Hitler und den Katholiken – und wie es im zweiten Weltkrieg „wirklich“ war. Ich muss meine historischen Kenntnisse aufbessern, irgendwie hatte ich das anders in Erinnerung. Den Schlüssel bekommen wir dann 30 Minuten später. Das zweite Set lag in seinem Schreibtisch. Ist ihm wieder eingefallen.

Dienstag, 8 September
Touritag
Vom Bett haben wir einen Blick auf Downtown Vancouver und im Hintergrund die Berge: Grouse, Seymour, Cypress. Sie sehen schon beim Aufwachen verlockend aus.
Wir haben die letzten Tage gearbeitet – aber bei diesem Wetter wäre ein Tag am Schreibtisch eine Sünde. Wir schauen uns an, schauen unseren Terminkalender an – und schauen in den Stadtplan. Heute geht’s auf den Grouse Mountain!
Grouse ist der „örtliche Hausberg“, an den Fuß kommt man mit Fähre (15 min) und Bus (30 min) und dann kann man entweder mit der Seilbahn hoch oder über den „Grind“ etwa 3000 Stufenmeter nach oben klettern. Der Berg ist 1200 m hoch und wenn man oben sitzt, sieht man die Hochhäuser von Downtown, das Meer und wenn man sich umdreht die schneebedeckten Rocky Mountains. Ist hübsch!
Allerdings ist der Aufstieg eine echte Herausforderung. Wir haben völlig verschwitzte zwei Stunden und 15 min gebraucht – mit dringend notwendigen Plauderpausen mit einem mexikanischen Pärchen, einer Holländerin, einem Engländer und einer kanadischen Mama mit zwei kleinen Kindern (5 und 7 Jahre). Männliche Kanadier jeglichen Alters legen den Aufstieg im Dauerlauf zurück, die Bestzeiten liegen bei etwa 50 min, der Durchschnitt bei 90. Sie sind mit abwägendem Blick auf unsere dicken Wanderschuhe in schweißabsorbierender Multifunktionskleidung leichtfüßig an uns vorbeigehechtet.
Auf dem Rückweg lernen wir trotz unseres schleppenden Ganges und der schweißverklebten Frisur noch Jens aus Innsbruck kennen. Er gibt uns seine Email-Adresse, falls wir mal ein Bier trinken gehen wollen. Wir wollen nicht.

Sonntag, 6 September
IKEA
Es ist Sonntag, es regnet und wir haben immer noch keinen Tisch. Ich hatte auf einen der lustigen Garage-Sales gehofft, doch bei Regen stellt niemand irgendetwas auf die Straße. Wir könnten eine Woche warten – oder wir könnten das Abenteuer wagen und zu IKEA fahren.
Wir entscheiden uns für das Abenteuer.
2 Stunden später sind wir da. Zum Glück gibt es das IKEA Restaurant und wie überall gibt es Hackfleischbällchen mit Preiselbeersoße und Hot Dogs, allerdings gibt es die Möbel, wie wir uns ausgesucht haben, nicht.
Der Tisch ist gerade ausverkauft, die Lampe auch und der Vorhang war sowieso ein Auslaufmodell. Nein, ich erwürge den pickligen Verkäufer nicht.
Wir suchen einfach andere Sachen aus, diesmal sparen wir uns aber den „Umweg“ über den Verkaufsraum und durchstöbern gleich das Lager. Es ist übersichtlich und dank raschen Zugreifens ergattern wir einen Tisch und die letzten Tischbeine.
An der Bushaltestelle, schwer bepackt mit prall gefülltem Rucksack und diversen Paketen unter dem Arm, wartet mit uns noch ein Inder, der uns sofort erklärt, dass er nur „zufällig“ hier sei, eigentlich hat er ein Auto, was er aber verborgt habe. Der Busfahrer guckt uns mitleidig an, eine alte Dame im Bus fragt uns, ob wir Austauschstudenten seien. Beim Umsteigen warten wir an einer Sonntags stillgelegten Bushaltestelle – und unser Ticket (gültig für zwei Stunden) läuft langsam ab. Es regnet, mir ist kalt und Hunger habe ich auch schon wieder. Wir müssen ein bisschen traurig aussehen, denn ein freundlicher Mann zeigt uns die „richtige“ Haltestelle und schenkt uns gleich noch zwei Bustickets und irgendwann gelangen wir dann auch mit unserer Beute nach Hause, wo wir sofort vom Ehrgeiz gepackt alles aufbauen. Zum Glück reicht IKEA gleich die Schraubenzieher mit. Doch weisen sie nicht daraufhin, dass die Lampen jeweils andere Fassungen haben. Und zwar andere als die Glühlampen, die sie verkaufen.
Es ist Sonntag, inzwischen kurz nach 20 Uhr und meine Freundin hält es für völlig aussichtslos, noch Glühlampen zu bekommen. Ich streite nicht mit ihr – ich gehe los. Und komme mit Glühlampen zurück, zumindest für eine der Lampen.
Der Abend endet mit Licht und Tisch.

Samstag, 5. September
Ich lade den russischen Studenten zum Pfannkuchenessen ein, wenn er es schafft, dass wir eher ein Telefon bekommen. Er verspricht, sein bestens zu geben.
Angeblich stehen wir jetzt auf der „Warteliste“ – sobald ein Termin ausfällt, werden wir vorgezogen.
Von Freunden höre ich, dass sich die Installation eines Telefons bis zu 3 Monaten hinziehen kann. Wir liegen also noch ausgesprochen gut „in der Zeit“.

Freitag, 4. September
Heute kam eine Mail von der Telefongesellschaft, bei der ich mich inzwischen schriftlich beschwert habe: „Leider können wir mit Ihnen keinen Termin für die Installation Ihres Telefons vereinbaren, da Sie über kein Telefon verfügen und somit für telefonische Rückfragen nicht zur Verfügung stehen.“
Ja, was meinen die wohl, warum ich ein Telefon haben will?

Donnerstag, den 3. September
Ich maile mit dem russischen Studenten. Er beteuert, nichts tun zu können.

Mittwoch, 2. September
Kein Telefon
Ich erzähle unserem Hausmeister, dass es mit dem Telefon nicht geklappt hat. Er übernimmt. Da er ein Telefon hat, ruft er bei der Telefongesellschaft an, und fragt nach. Angeblich hat man uns in “Vancouver Island” (Victoria) vorgemerkt, dort gab es allerdings die entsprechende Adresse nicht. Wundert mich nicht, wir wohnen ja auch in Vancouver. Ich weiß nicht, ob das eine dumme Ausrede ist – oder stimmt. Die Begründung des russischen Studenten klang nicht besser.
Der Hausmeister sagt, er hätte mit dem Manager gesprochen und das Gespräch hätte schreiend geendet. Ich kann nur hoffen, dass er lauter als dieser geschrien hat. Doch das einzige, was er erreichen konnte, sei ein Alternativtermin am 22. September.

Dienstag, 1. September
Umzug.
Natürlich steht der Hausmeister 9.45 Uhr vor dem Haus. Natürlich mit der Kaffeetasse in der Hand, lässig ans Auto gelehnt, plaudernd mit einem anderen Mieter. Er nickt uns zu.
Wir tragen tapfer unsere Sachen herunter: 2 Rucksäcke, 2 Koffer, eine Kiste Geschirr, der Drucker, die Betten, Matratzen, eine große Plastikkiste und eine noch größerer Sack. Und unsere zwei Stühle.
Als ich in das Auto gucke, durchzuckt mich einen Moment der Schreck: Er hat es nicht leer geräumt. Neben Farbeimern, einer Leiter und mehreren Säcken undefinierbaren Inhalts fängt er an, unsere Sachen ins Auto zu stopfen. Als er vorschlägt, dass wir laufen könnten, damit er auch die Sitze voll stellen kann, räume ich alles wieder aus und sortiere es neu ein. Er bindet zähneknirschend die Matratze aufs Dach. Zwischen die Stühle geklemmt, passen wir nun auch noch ins Auto. Es ist ein Mercedes. Kein Lieferwagen.
Beim Ausräumen entdeckt er seinen männlich-südeuropäischen Charme wieder und trägt uns die Sachen nach oben – und nach 3o Minuten ist der „Umzug“ vorbei. Pünktlich mit den Handwerkern betreten wir die Wohnung – der neue Teppich ist noch nicht verlegt. Der Hausmeister hatte die Wohnung bis nachts um halb fünf gestrichen. Man riecht es.
Wir stellen unsere Sachen in die Einbauschränke und auf den Balkon, lassen die Handwerker in Ruhe und gehen an den Strand einen Kaffee trinken – drei Stunden später ist in der gesamten Wohnung ein neuer Teppich verlegt. Der Farbgeruch wird nun vom Teppichgeruch überdeckt.
Wir reißen die Fenster auf und gehen zum zweiten Mal Kaffee trinken.

Montag, 31. August
Sicherheitshalber rufe ich den russischen Studenten, bei dem ich den Vertrag für unser Telefon abgeschlossen habe, an und frage, ob am nächsten Tag alles mit der Installation klappt bzw. ob er mir den Termin sagen kann, wann der Installateur kommt. Hektisches Blätterrascheln. Er will zurückgerufen werden. Zweiter Anruf. Er sagt, unsere Anmeldung sei “verloren gegangen”. Der früheste mögliche Termin ist der 22. September.


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7. September 2009
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Blog

„Ich liebe die Wahrheit.
Solange sie spannend ist.“

Wie alles begann
Mitte Februar
Es regnet. Seit Tagen schon. Der Himmel sieht nicht aus, als würde es je wieder aufhellen. Wir gehen trotzdem spazieren. Wider die schlechte Laune und wider die Depression. Der Fluss wälzt sich träge und braun durch den Regen. Als wir durchnässt sind, landen wir im „Schnitzelhaus“, Gartenanbau mit Wärmepilz. Die Portionen sind riesig, der Preis moderat. Allerdings wird Naschen von fremden Tellern, sog. „räubern“, mit 2,50 € berechnet. Ich finde das unverschämt. Die gerade gebändigte schlechte Laune springt wieder knurrend hervor.
„Ich will hier nicht sein“, murmle ich zwischen zwei kalten Pommes.
„Ich auch nicht.“ Meine Freundin beugt sich über die zweite Hälfte des Schnitzels.
„Dann lass uns doch gehen.“
„Ja.“
Ich schaue auf. „Ich meine es ernst.“
„Ich auch.“
„Griechenland?“
„Nö.“
„England?“
„Nö. Zu nah, zu europäisch. Zu viel Regen. Ich dachte, du willst weg.“
Plötzlich ist der Regen gar nicht mehr so furchtbar. Ich wäge die Optionen ab.

Zwei Tage später
Eine Flasche Whiskey, ein „Kinderatlas der Erde“ und wir. Jede darf sich was wünschen. Die Liste bleibt übersichtlich, schließlich sind wir vernünftige Menschen. Realisten.
– englischsprachig (damit wir uns dort verständigen und arbeiten können)
– eine Großstadt
– am Meer
– und die Berge recht nahe
Die Liste der Dinge, die wir nicht wollen, ist länger. Wir blättern durch den Atlas. Wir wollen „sauberes Englisch“. Damit entfallen Indien und Papua-Neuginea. Beides bedauere ich. Keine Urwaldabenteuer, keine Meditationsseminare unterm Feigenbaum. Außerdem wollen wir nicht in einer Region leben, in der Menschenrechte nicht geachtet, Diktatur herrscht und Folter und homosexuelle Diskriminierung an der Tagesordnung sind. Wir können viele Seiten überblättern, u.a. Asien. Die USA lockt uns beide nicht, Europa hatten wir schon ausgeschlossen und, naja, in Bürgerkriege verstrickt, ausgeraubt und vergewaltigt wollen wir auch nicht werden. Damit entfällt Afrika.
Im Länderatlas sind wir inzwischen bei Neuseeland und Australien, beim Whiskey Vier-Finger-breit überm Flaschenboden. In Australien wüten gerade schlimme Waldbrände, außerdem gibt’s da Skorpione und Giftschlangen. Ich mag da nicht hin. Und Neuseeland? „Da sieht´s doch aus wie im Schwarzwald!“ Keine Option also.

23. Februar
Per SMS die Nachricht: „Vancouver.“ Ich überlege: Liegt am Meer, hat Berge, man spricht englisch. Klingt gut.
Ich stehe im Bus auf dem Weg zum Mainzer Karneval. Neben mir ein Freund im Ganzkörperbärchenkostüm. Ich erzähle ihm sofort von unserem Plan. Er ist skeptisch, voller Bedenken. Spricht vernünftig von Risiko und wirtschaftlich schwierigen Zeiten, immerhin ist eine Krise prognostiziert. Die Zukunft sei schwierig, die Aussichten sind nicht gut. Ich schaue ihn an. Er hat ja sooo Recht! Und klug ist er auch. Ich bewundere ihn. Aber, ich meine, hey, der Mann wiegt locker 100 kg, trägt trotz Bärchen-Honigbauch ein flauschiges Ganzkörperkostüm, wir werden mit Konfetti beworfen und er spricht von Wirtschaftsrisiko? Kreditlinie? Finanzkrise? Soll ich darüber jetzt ernsthaft nachdenken?
Ohne zu überlegen sage ich „Ja.“
Kanada.
Er ist einen Moment überrascht, aber ich glaube, wir kennen uns lange genug, dass er nicht wirklich überrascht ist.

Ende Februar
Kanada. Aufgeregt füllen wir die Papiere aus, beantragen ein Arbeitsvisum. Ohne Moos nichts los, es ist uns von Anfang an klar, dass wir arbeiten müssen, um unser Leben dort zu finanzieren. Ein Jahr „Urlaub“ ist nicht drin.

Zu Hause. Ich eröffne meiner Mutter, dass wir nach Kanada wollen, für ein Jahr. Während ihr Freund versucht, dass als Spinnerei zu bagatellisieren („na, mal sehen, ob das klappt“), sagt meine Mutter nur: „Na, zum Glück. Du hast dich nicht verändert. Ich hatte mich schon ein bisschen gewundert über deine Sesshaftigkeit.“
Ich habe die letzten 9 Jahre in Deutschland gelebt. Es ist definitiv Zeit für was Neues.

Meine Schulter ist verspannt, wie so oft. Ich bekomme Massagen, der Masseur ist nett. Gutaussehend und nett. Ich erzähle ihm beiläufig von den Vancouver-Plänen. Er bekommt leuchtende Augen und ist Feuer und Flamme: Olympia 2010.
Ich schau ihn an: Der Mann ist echt begeistert.
Und ich bin es auch.

20. März
Das 1. Visum liegt in der Post. Jetzt geht es los! Aber erst steht die Buchmesse an.

Buchmesse. Business as usual, nur mit dem Unterschied, dass ich genau weiß, dass ich im nächsten Jahr nicht dabei sein werde. Allerdings ist das noch nicht „offiziell“, d.h. ich kann nicht darüber sprechen. Jedenfalls nicht mit allen. Das gibt vielen Gesprächen eine gewisse Merkwürdigkeit.

Bei einem Empfang lerne ich eine Frau vom ZDF kennen, beim anschließenden Essen landen wir nebeneinander. An unserem Ende der Tafel stehen die Weinflaschen, Liköre, Schnäpse. Ich spiele Mundschenk, der Abend wird lustig. In der Bar werden anschließend noch Zukunftsvisionen entwickelt, ich erzähle vom schönen Masseur, Vancouver und Olympia 2010. Auf dem Heimweg bleiben wir mit zwei Italienern in einer weiteren Kneipe hängen. Die „Zukunft“ wird immer besser. Wir müssen in Kontakt bleiben, ganz klar.

30. März
Das zweite Visum liegt in der Post.

31. März 21 Uhr
Wir kündigen die Wohnung. Damit müssen wir sie zum 30. Juni verlassen. Ich bin merkwürdig ruhig, als ich mit dem Kündigungsschreiben zu meinem Vermieter fahre.

Übersprungshandlung.
Ich sitze wieder beim Masseur. Nur im BH, seine Hände an meinen Nacken, meinen Schläfen. Adrenalin. Hormone. Mein Kopf funktioniert nicht mehr. Statt wie vorher überlegt zum Bier lade ich ihn unüberlegt nach Vancouver ein, zu den olympischen Spielen. Murmle konfus etwas von „da könnten wir doch zusammen hingehen“. Dann blubbere ich wirr von „ZDF“, „Presse“ und „Spaß haben“. Er rennt mitten während der Behandlung aus dem Zimmer: „Muss den Wäschetrockner ausstellen.“
So wird das nichts.
Meine Schulter schmerzt am Ende mehr als am Anfang.

Wieder beim Masseur.
Das Gespräch ist schwierig, ich bin angespannt. Kein Wunder, war ja auch übertrieben, die ganze Sache. ZDF? Ich meine, ich habe seit 6 Jahren keinen Fernseher. Aber das sage ich nicht. Wir versuchen zu plaudern.
Er murmelt „Lokalzeitung.“
Ich nicke oder so.
Lokalzeitung?
Lokalzeitung!
Scheint mir eine gute Idee. Beglückt hüpfe ich nach Hause, winke euphorisch den Nachbarn zu. Lokalzeitung! Die Nachbarn kommen zum Kaffee rüber – und natürlich erzähle ich ihnen gleich die ganze Geschichte von Masseur, Vancouver und Olympia. Die Nachbarin arbeitet bei der Lokalzeitung. Das wusste ich gar nicht! Also renne ich ins Büro, gebe ihr meinen Flyer und meine Visitenkarte, sie verspricht, es dem Sportredakteur zu geben.

Nächster Morgen. 9.30 Uhr. Das Telefon klingelt. Meine Nachbarin hat meine Kontaktdaten weitergegeben, der Sportredakteur findet es spannend, dass jemand nach Vancouver geht.
Wir vereinbaren ein Vorstellungsgespräch.

Vorstellungsgespräch.
Der Sportredakteur kommt ein paar Minuten später, der Begrüßungs-Smal-talk beginnt mit: „Mainz hat gestern gespielt. Ist später geworden.“ Mein Kopf rattert. Tischtennis, Fußball? Keine Ahnung.
Ich schweige dezent. Sport ist nicht der „Kernpunkt meines Interesses“, vorsichtig formuliert. Wir wissen beide schnell, dass ich mit anderen Qualitäten punkten muss. Also Feuilleton. Randgeschehen, Berichte aus der Stadt, Kolumnen. Das könnte gehen.

Ich telefoniere mit meiner Bankberaterin. Mein Dispolimit wird erhöht.

Mein Versuch, den Masseur zu wechseln, scheitert. Der Mann ist einfach zu attraktiv, als das ich entspannt vor ihm sitzen könnte. Alternativen gibt es aber nicht. Also sitze ich komplett unentspannt und diesmal fast schweigsam vor ihm und denke fest an die Mülltonnen in unserem Hof.

Tapfer wühle ich mich durch die Antragsformulare für einen Presseausweis. Allein beim Download des Formulars stürzt mein Rechner dreimal ab. Wo waren die Bestätigungen meiner bisherigen Auftragsgeber? Ich fordere sie neu an. KSK-Unterlagen? Einkommensnachweis? Argh! Dann wühle ich mich durch Zeitungsstapel. Wo waren meine Veröffentlichungen? Ich verteile wild Klebezettel und fange an zu schwitzen. Habe ich die Ausgabe 04/08 noch? Und 06/08 bis 09/08? Da war doch auch was von mir drin, oder? Hektisch telefoniere ich mit meiner Freundin. Ja, sie hat die Ausgaben noch, ja, sie scannt sie mir ein. Kein Problem.
Irgendwann kann ich alles eintüten und abschicken. Ich bin geschafft.

Eine Woche später.
Anruf des Journalistenverbandes. Es fehlt ein weiteres Formular. Ich stöhne verzweifelt und kurz auf.
Wieder sitze ich über Papieren.

6. Juni
Abschiedsparty
Okay, wir sind noch eine Weile da, aber es stehen noch weitere Termine an, der Countdown zur Wohnungsübergabe läuft. Als die Wohnung voller Gäste ist, schwanke ich zwischen Euphorie und Trauer. Ich trinke und tanze und trinke noch mehr. Einige unserer Freunde spielen in Bands: Tupelo Dream, Singvögel, Mbasa Nketo. Heute Abend spielen sie zusammen: Folk trifft Janis Joplin mit afrikanischen Trommeln. Let´s rock!
Gegen 5. Uhr kapituliere ich, die letzten Partygäste knutschen vor der Haustür weiter.

7. Juni
Natürlich gibt es Frühstück. Natürlich ab 10. Uhr, auch wenn die ersten bereits um 8. Uhr nach Kaffee fragten. Aber zum Glück haben wir Freunde, die sich ihren Kaffee nach einer Party auch selber kochen. Und für mich einen mit. Danke!

Kisten packen, jeder Tag zählt. Wir werden alles in einem Container verstauen und dort lagern. Dazwischen Aufträge akquirieren, Projekte abwickeln, Verträge abschließen. Viele Sachen klappen, einiges geht schief. Naja. Zähne zusammenbeißen.

Heureka!
Der kanadische Schriftstellerverband hat uns für einen Vortrag gebucht! Wir sollen über die deutsche, also eher die europäische Buchszene referieren…

Letzter Termin beim Masseur
Dass er kurz vorher anruft, und den Termin um 2 Stunden nach vorn verschiebt, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei. Ich bin nervös.
Wir reden über Belanglosigkeiten, Kommunikation ist schwierig. Ich würde ihn gerne wieder sehen, er erklärt, dass die Behandlung abgeschlossen sei. Also, sofern der Orthopäde das nicht anders einschätzt…es sei ja nur seine Sicht. Ich fühle mich weggeschickt. Der Mann ist mindestens so verkrampft wie ich. Als er ein freundliches „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“ versucht, feuere ich ein panisches „mit Sicherheit nicht“ zurück.
Er wird blass.
Der Abschied ist schmallippig und wortkarg.
Am Abend bekomme ich Fieber.

Unter fadenscheinigen Vorwänden rufe ich am nächsten Tag noch einmal in der Masseurs-Praxis an. So ein Satz ist kein Abschiedssatz. Wir versuchen noch einmal freundlichere Sätze. Wie Abschiedssätze klingen sie irgendwie immer noch nicht.

14. Juni
Großer Auftritt
Ich halte die Eröffnungsrede für die Ausstellung dreier Künstler: ein Holzbildhauer, ein Steinmetz und ein Maler. Die Ausstellung ist in einer kleinen Kirche, und sie ist gut besucht. Ich schätze, es sind 120 Leute gekommen. Am Anfang klopft mein Herz, dann wird es besser. Am Ende ist es ein unglaubliches Gefühl: Ich spreche, und 120 Leute hören mir zu. Sie folgen meinen Gesten und wenden sich den Kunstwerken zu, zu meinem Worten drehen sie die Köpfe. Wow! Wie müssen Priester ihre Performance erst genießen!

Against all odds
Es gibt ein Abschiedsbier mit dem Masseur. Wir gehen tatsächlich zusammen was trinken. Ich freu mich, ihn noch einmal zu sehen, und noch mehr, dass ich diesmal mein T-Shirt anlassen kann. Wir erzählen uns unsere Lebensläufe, er erzählt mir von den Austragungsstätten der olympischen Spiele in Vancouver. Er ist vorbereitet, ich bin beeindruckt. War das sein Ziel? Natürlich nicht, er hat eine Freundin, wie er mehrfach betonen muss. Ich wiederhole dennoch meine Einladung nach Vancouver. Er überlegt, die Begeisterung für Sport ist ihm anzumerken.
Dann irritiert er mich mit plötzlicher Aufbruchsstimmung, das Bier ist noch halbvoll. Er ist unruhig, zappelig und will augenscheinlich sofort weg. Als ich ihm beschreibe, wo ich wohne, kennt er das Haus. Ich bin verwundert, im Erdgeschoss ist ein Kosmetikstudio. Er sagt, dass er dort öfter sei. Hm? Als ich nachfrage, sagt er nervös: „Zum Glück haben wir jetzt kein Date, sonst würde ich dir das nicht erzählen. Aber ich lasse mir da immer die Augenbrauen zupfen…“
Gut zu wissen, dass wir kein Date hatten. Außerdem hätte ich sonst solch spannende Details nicht erfahren. Wir waren einfach nur ein Bier trinken.
Und das fand ich richtig nett.

27. Juni
Der Umzugswagen kommt in einer Stunde, wir haben alles gepackt. Wir sind fertig, die Jungs werden sich ein wenig verspäten. Ich beschließe, die Zeit zu nutzen und lasse mir von meiner Freundin die Augenbrauen zupfen.
Sie kann das besser als jedes Kosmetikstudio!

28. Juni
Ich setze eine meiner Pflanzen im Weinberg aus. Ich habe keinen neuen Besitzer für sie gefunden. Ich borge mir eine Schaufel, buddel ein Loch und gieße sie kräftig an. Jetzt kann ich nur auf einen freundlichen Weinbauern hoffen.
Wenn sie es schafft, auszuwurzeln, dann wird sie einen fantastischen Blick über die Stadt haben. Und wenn sie groß genug wird, könnte man unter ihr sitzen – und den Blick genießen.
Ich nehme mir fest vor, in Vancouver keine Pflanzen anzuschaffen. Ich weiß, dass es mir nicht gelingen wird. Also sollte ich nur solche erwerben, die man dann wieder aussetzen kann… Meiner Freundin sage ich von derlei Überlegungen besser nichts.

29. Juni
Abschied, überall Abschied. Nachbarn, Freunde, ich gehe sogar noch einmal ins Kosmetikstudio. Die Augenbrauenzupferin des Masseurs verabschiedet mich mit einem Kuss. Einen Moment überlege ich, ob er wohl deshalb zu ihr geht. Dann schenke ich den Mädels meine letzten Blumenkästen. Die Fresien blühen.

3. Juli
Weg von hier. Es ist heiß, mein Auto voller Pflanzen und ich singe laut: Hit the road Jack, why don`t you come back no more, no more, no more …

Ein paar Tage in meiner Heimatstadt. Ich treffe Leute, trinke auf Parties. Auf einer treffe ich einen Mann, der den ehemaligen NOK-Präsidenten kennt. Ich erkläre mein Dilemma: Presseausweis um dem Masseur zu imponieren und keine Ahnung von Sport. Die Jungs sind begeistert, meine Chuzpe scheint anzukommen: Ein paar Telefonate, und ich habe einen Termin beim Ex-NOK-Präsidenten!

6. Juli
Ich sitze tatsächlich beim ehemaligen NOK-Präsidenten, lasse mich mit Pflaumenkuchen, Kaffee und Schlagsahne verwöhnen und mir alles rund um Olympia erklären: NOK; IOC; Verbandsarbeit, aerobe und anaerobe Trainingsmethoden, Blut- und Materialdoping, ich kriege die perfekte Einführung. Irgendwann setzt sich seine Frau dazu – und jetzt wird es richtig spannend: Ich traue ich mich nun auch die Fragen nach dem Dresscode zu stellen. Schließlich will ich nicht schon am Eingang am falschen Outfit scheitern…

7. Juli
SMS-Wechsel mit dem Masseur. Er findet`s cool – und wünscht mir eine „gute Zeit“. Ich stolpere immer wieder über diese für mich fremde Formulierung, aber wahrscheinlich ist es der falsche Zeitpunkt für sprachphilosophische Überlegungen und immerhin – wir kommunizieren.

9. Juli
Das „Kleine Schwarze“
Shoppen. Ich weiß, es ist nicht der richtige Zeitpunkt und für den Flug herrscht ein strenges Gepäcklimit, aber ich denk an die Ratschläge der Gattin des Ex-NOK-Präsidenten und kauf ein „Kleines Schwarzes“. Kurz, eng, ausgeschnitten. Für Empfänge und „festliche Anlässe“ (wie meine Mutter es nennen würde) sicher das Richtige. Vielleicht nicht unbedingt im Februar, aber so kalt wird es schon nicht werden. Naja, vielleicht in Whistler … aber Vancouver selbst liegt ja schließlich am Meer. In einer geschützten Bucht. Und zur Not muss man eben einen Pelz über die Schultern werfen. Aber passen dann noch Absatzschühchen?

13. Juli
Abschiedsessen bei Freunden, sie kochen noch einmal regional. Dazu bekomme ich eine genaue Belehrung, welche Motorräder für mich geeignet wären, mit welchen Maschinen ich einsteigen könnte. Ich will meinen Motorradführerschein drüben machen.

14. Juli
Letzte, allerletzte Tage in dieser Stadt. Unsere Sachen sind im Container eingelagert, wir wohnen bei Freunden. Es ist noch viel zu organisieren, vor allem muss ich arbeiten, Geld verdienen. Ich versuche, das Chaos zu ignorieren und mich auf meine Übersetzungen zu konzentrieren. Sitze in der Dachgeschoßwohnung im Haus eines Freundes, die Stadt mir zu Füßen. Es ist ruhig hier, die Arbeit geht überraschend gut voran.

16. Juli
Die Arbeit ist nur die eine Seite, das Leben die andere. Dachgeschoß, Laptop, Internet und Drucker, ein Bett und ich. Für die letzten Tage hat das gereicht. Aber wie gesagt, es ist nur die eine Seite. Zahnbürste, T-Shirt und Fahrrad sind die andere Seite.
Ich laufe durch die Stadt und versuche die Dinge alle an einen Platz zu bringen: Meine Klamotten sind bei einem Freund, den Schlüssel hat meine Freundin. Das geborgte Fahrrad hatte ich beim letzten Weinfest stehen gelassen, auch das will noch zurückgebracht werden, und übernachten kann ich bei einem anderen Freund. Etwas konfus und vor allem völlig übermüdet laufe ich durch die dunklen Straßen, es ist kurz vor Mitternacht. Die Sommernacht ist lau und schwül.
Da kommt mir ein Paar entgegen, ich erkenne ihn sofort. Es ist der schöne Masseur – mit seiner Freundin.
Die Szene ist eindeutig: Er bringt sie nach Hause.
Sie sehen mich nicht und ich bleibe im Schatten der Bäume, was die Situation nur noch grotesker werden lässt.
Ich will hier weg.

17. Juli
Die erhoffte Akkreditierung für Olympia wird es nicht geben. So einfach ist das nicht. Ich weiß, echte Sportjournalisten lecken sich seit Monaten die Finger danach. Aber heute gab es die Nachricht von der Lokalzeitung. Nach der nächtlichen Begegnung durchaus passend, wie ich finde.
Ich laufe auf Autopilot. Abschiednehmen ist anstrengend, und die vor der Abreise UNBEDINGT noch zu erledigenden Aufträge und Aufgaben stapeln sich. Lebenselixier und Dauerdroge: Kaffee. Maximale Schlafdauer: 4 Stunden.
Dazwischen immer wieder bizarre Einbrüche von Normalität (oder dem, was man sonst dafür hält): Babysitten, dem Sohn von Freunden Pfannkuchen braten, Wohnung putzen, Blumen gießen, Grillen. Auf dem geborgten Schreibtisch steht die letzte meiner Pflanzen.

20. Juli
Oups, I did it again.
Ich wollte nicht mehr an den Masseur denken. Und nicht mehr an Olympia. Und an Sport schon gar nicht. Ich will einfach nach Kanada, und dort die Dinge einfach auf mich zukommen lassen…
Aber wenn ich doch schon mal mit einer Journalistin am Tisch sitze, die den Chefredakteur der Abteilung „Sport“ kennt?
Natürlich habe ich an die leuchtenden Augen des schönen Masseurs gedacht und natürlich habe ich sofort aufgehört logisch zu denken und natürlich mal wieder voll ausgeblendet, dass ich keine Ahnung von Sport habe und einfach lächelnd meine Visitenkarte über den Tisch gerecht. Vancouver. Olympia. Ich bin da auch. Übrigens.
Als die Bekannte vorschlägt, dass die Kolumnen „Berichte einer Unsportlichen“ heißen könnten, ist es ein bitterer Aufprall der Wirklichkeit. Autsch. Aber ich bin in meiner Heimatstadt, die Leute kennen mich hier einfach zu gut.

22. Juli
Ich kaufe eine Kamera. Nein ich will eine neue kaufen. Nach intensiven Recherchen im Internet und in den örtlichen Elektronikfachmärkten wird schnell klar: In Kanada sind Elektrogeräte billiger. Also gehen wir einfach zum nächsten Italiener und trinken eine Eisschokolade.

25. Juli
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.
Was als Hymne für Fußballer gut war, nutzen wir auch als Begrüßungslied. Die Fahrt ist problemlos, allein Berlin begrüßt uns gewohnt mürrisch: Die S-Bahnen fahren nicht. Also mit Gepäck, Regionalzug und Straßenbahn weiter, dreimal umsteigen statt einmal S-Bahn. Ich kämpfe mit der schlechten Laune, aber die vergeht.
Am Abend treffen wir eine gute Freundin, sie ist 14 Tage in Deutschland, seit 9 Jahren lebt sie in Shanghai. Wir haben uns fast 2 Jahre nicht gesehen und viel zu erzählen. Am Ende plaudern wir über Babylon 5 und DS 9.

26. Juli
Letzter Tag
Wir gehen in die Emil Nolde Ausstellung. Danach gibt es original Coosucous mit Hammel und arabischen Würsten. Meine arabische Freundin hat sich mit ihren Kochkünsten wieder einmal selbst übertroffen. Danke!

27. Juli
„Are you staying for the olympics?“
Wir fliegen los! Direktflug nach Vancouver, alles klappt super. Warum sind wir dann trotzdem immer wieder so furchtbar aufgeregt? Ich versuche mit Sekt und Rotwein dagegen anzugehen, aber es gelingt nicht. Als die Rocky Mountains unter uns liegen, schneebedeckt und majestätisch, habe ich vor Vorfreude Herzklopfen.
Dann der Zoll, und sofort werden wir weitergeschickt zum Immigration Office. Dort sitzt eine mürrische Frau, die mich anbläfft, warum wir das Zollformular gemeinsam ausgefüllt haben. Weil es so draufstand? Ich fange an zu flattern. Wir brauchen ein Arbeitsvisum. Mein T-Shirt ist durchgeschwitzt. Ich rede um mein Leben, von unserem Beruf, den Aufträgen, Kanada. Ihr Kollege kommt dazu, stellt sich lässig hinter sie. Sie erzählt ihm, was ich sagte. Das wir Bücher machen. Übersetzen. Schreiben. Er fragt: „Are you staying for the Olympics?“ Natürlich! Er strahlt und klebt die Arbeitserlaubnis in meinen Pass. Ich strahle auch. Die beiden reden davon, dass sie auch zu Olympia wollen, vermutlich als Volunteers, morgen läuft die Anmeldefrist ab. Ich frage nach den Steuerregeln. Die Zollbeamtin weiß es nicht, fragt die Kollegen, googelt im Internet, schreibt mir plötzlich unerwartet freundlich die Adresse auf. Glücklich suche ich ein Taxi: Jetzt ist Zeit für einen Sekt!
Ankommen. Wir wohnen bei Bekannten, der Schlüssel hängt in einem Schrank neben dem Eingang, während wir duschen kommt unser Bekannter. Alles ganz lässig.
Wir machen einen ersten Strandspaziergang, anschließend gibt es Barbecue. Gegen 21.30 Uhr Vancouver Zeit falle ich ins Bett – und fühle mich wie nach einer durchgemachten Party. In Deutschland wäre es früher Morgen. Es war definitiv der längste 27. Juli in meinem Leben!

Dienstag, 28. Juli

Wohnungssuche in Vancouver. Schnell kriegen wir den Bogen raus. Die Angebote stehen im Internet, man muss anrufen, möglichst in der Nähe sein, einen Termin vereinbaren, hingehen, ansehen, sich entscheiden. Wir laufen quer durch die Stadt, natürlich alles zu Fuß. Manchmal sehen wir „for rent-signs“ („Zu-Vermieten-Schilder“). Wir beobachten, wie sie aufgehängt werden, sie hängen meist nicht länger als einen Tag, vielleicht zwei. Auch die Angebote im Internet sind innerhalb weniger Stunden vergeben. Wir verlieren schnell die Scheu und sprechen die Leute einfach auf der Straße an. „Du ziehst aus? Wird deine Wohnung frei?“ – Schon vergeben, aber ein Schreibtisch ist zu verschenken. Ich hätte ihn genommen, meine Freundin hält mich ab – wir haben noch keine Wohnung.

Mittwoch, 29. Juli
Wir entscheiden uns für Kitsilano, nette Ecke, einer der Vermieter hat es als „funky-artsy“ beschrieben. Hier wohnen Künstler neben Familien mit Kindern. Die meisten Häuser haben einen Vorgarten, in vielen blühen Blumen. Manchmal werden auch Tomaten und Basilikum angebaut. Dazwischen ein paar Mietshäuser, die meisten ziemlich abgewohnt. In denen haben wir Wohnungen gesehen, meine Güte. Downtown hat uns beiden nicht zugesagt. Zu touristisch. Und die Leute, die da wohnten, waren anders drauf. Härter, arroganter. Und die Wohnungen klein und teuer. Oder etwas größer und sehr teuer.

Donnerstag. 30. Juli
Es ist heiß, heiß, heiß. In Kitsilano, kurz Kits, stehen fast ausschließlich Einfamilienhäuser. Zu vermieten ist das Basement – das ist die Wohnung direkt am Boden, teilweise liegt sie auch halb im Keller. Das ist unsere Preisklasse. Das Obergeschoss, was mir natürlich viel besser gefallen würde, kostet das 3 bis 4-fache dessen, was wir uns vorgestellt haben. Wir schauen es uns trotzdem an und fragen den Vermieter, ob wir untervermieten könnten. Wir können. An eine Person wäre es ok. Das wäre ein Zimmer. Wir rechnen. Die Miete bleibt immer noch zu hoch. Mist.
Und da wir keine Kellerwohnung wollen, scheint der Traum von Kits damit passé . Ich habe das erste Mal richtig schlechte Laune und rufe einen Boykott aus: Meine Beine tun weh, meine Füße sind geschwollen und Hunger habe ich außerdem. Trotzig setze ich mich auf eine kleine Begrenzungsmauer, hinter mir eine frisch gemähte Wiese, und starre aufs Meer. Hier ist es schön. Meine Freundin schaut sich um. „Hübsches Haus.“ Sie zeigt auf das Hochhaus. Nicht superschick, aber gepflegt. Blick auf Downtown und aufs Meer. „Können wir uns nicht leisten“, murmle ich resigniert. Und schiebe schnell noch ein „Ist eh nichts frei“ hinterher.
Meine Freundin geht dennoch unerschrocken zum Hauseingang und schreibt die Nummer vom Hausmeister auf. Die heißen hier „Property Manager“ und kümmern sich auch um die Vermietungen, soviel haben wir schon gelernt.
Am Abend ruft sie ihn an. Es ist zwar schon 20 Uhr, aber die beiden plaudern trotzdem eine ganze Weile zusammen. Worüber reden sie denn nur? Es ist doch sowie nichts frei…
Ich grummle, aber ich sage nichts. Schließlich bin ich die, die inzwischen auf dem Sofa liegt.

Freitag, 31. Juli
Fast schon Routine. Wachwerden, Frühstück, Internet. Immer neue Angebote, immer das gleiche Kaliber. Kellerwohnungen in Kits, Wolkenkratzer in Downtown, Westend, Yaletown. Dazu die Vororte. Wir rufen eher aus Pflichtbewusstsein an, schließlich wolen wir die Gastfreundschaft unserer Bekannten nicht überstrapazieren.
Am Mittag ruft meine Freundin noch einmal den Hausmeister an. Er hatte gesagt, sie solle Punkt 12 Uhr noch einmal anrufen. Diesmal ist etwas frei. Wir sollen sofort vorbeikommen, wenn wir können. Wir können. Am Mittag hatte jemand gekündigt – es ist der 31. Juli. Man muss einen Monat im Voraus kündigen. Und am Nachmittag wird die Wohnung im Netz ausgeschrieben werden. Wir sehen die Wohnung vor der Ausschreibung, und als sie im Netz steht und die Leute im Minutentakt anrufen, unterschreiben wir bereits den Mietvertrag.
Der Hausmeister ist ein Serbe, und steht auf den etwas schrägen europäischen Humor und große Brüste. Können wir beides bieten, auch wenn ich die schlüpfrigen Witze nicht immer verstehe. Meine Freundin findet sie geschmacklos. Es ist das, was man in Deutschland „Bauerarbeiterjargon“ nennen würde. Ich versuche mein bestes, um irgendwie mitzuhalten. Manchmal kommen mir meine Antworten etwas derb und direkt vor, aber er lacht nur. Feinfühligkeit wäre fehl am Platz.
Der Hausmeister zeigt uns 5 Wohnungen. Ich habe ein Dauergrinsen im Gesicht. Die Wohnungen sind entweder bewohnt –„Da seht ihr mal, wie es aussehen kann“ – oder sie sind viel zu teuer. Er zieht eine richtige Show ab – und genießt sie. Wir grinsen und spielen mit. Endlich kommt er zur Sache. Eine Wohnung ist frei – und bezahlbar. Dafür also das ganze Theater! Er hätte sie uns auch gleich zeigen können. Meine Freundin und ich, wir geben uns kurze Signale, dann sage ich zu. Danach ist mir schlecht. Die Showtime hat fast zwei Stunden gedauert, mein Kreislauf kippt. Ich will die Wohnung noch einmal sehen. Kein Problem. Der Hausmeister spendiert eine Zigarette, dann noch eine. Natürlich ist im ganzen Haus Rauchen strikt verboten, wie fast überall in Kanada. Aber schließlich ist er der Hausmeister. Wir klären die Formalien. Wir müssen eine Anzahlung hinterlegen, dann den Mietvertrag unterzeichnen. Wir holen das Geld, den Papierkram klären wir abschließend mit seiner Frau. Ich bin beruhigt, mein Gefühl hat mich nicht getäuscht: schräger südeuropäischer Humor gemischt mit testosterongeschwängertem Machogehabe. Der Mann ist verheiratet und hat zwei Kinder, die Familie wohnt in der unteren Etage mit im Haus.
Er kennt alle im Haus und wir tun das nun auch: Es sind Rentner, ein Paar hat sein Haus verkauft, um die letzten Jahre hier in Vancouver zu verbringen, er Kanadier, sie Chinesin; ein brasilianischer Arzt, eine Schriftstellerin, ein Bauarbeiter, eine Stripperin und ganz oben eine Studentin, deren Eltern unbedingt wollen, dass sie hier wohnt und das (viel zu große, wie der Hausmeister sagt) Appartement finanzieren.

Samstag, 1. August
Unsere Bekannten fahren übers Wochenende weg, am Montag ist Feiertag. Wir haben zwar eine neue Wohnung, aber keine Bleibe für August. Hier können wir nicht bleiben, es ist echt eng. Also suchen wir weiter, diesmal nach einer Zwischenlösung. 2 Stunden später der erste Besichtigungstermin: Eine Zweiraumwohnung. Das Schlafzimmer der Besitzerin steht – vollständig eingerichtet – zur Untermiete. Die Wohnung ist ebenerdig, sie schläft auf dem Boden im Wohnzimmer, die Teenagertochter zieht mit dem Zelt auf die Terrasse. Das Wohnzimmer hat keine Tür, die Küche ist offen integriert. Meine Freundin bittet sich Bedenkzeit aus, ich sage noch während der Besichtigung ab. Wir müssen arbeiten! In dieser Wohnung hätte es weder einen Tisch noch Stühle für uns gegeben, wir hätten nicht kochen können und die Frau und ihre Tochter wären den ganzen Tag zu Hause gewesen.
Provokant sage ich auf dem Heimweg, dass uns nichts in Vancouver hält. Wir sind hier noch die nächsten 12 Monate. Warum nicht woanders hingehen? Wir schauen auf die Landkarte und die nächste Stadt, die uns ins Auge fällt, ist Victoria auf Vancouver Island. Klingt doch nicht schlecht. Unser Bekannter empfiehlt uns ein nettes Hostel.
Meine Freundin ruft an, bucht. Ich suche parallel weiter nach einer Wohnung, abends schauen wir sie an. Der Typ ist nett, beglückt vom Cider, den er uns anbietet, finde ich nicht nur den Typ, sondern auch die Wohnung nett. Wir reden über Olympia, er nennt mir die besten Skipisten. Diesmal sagt meine Freundin sofort ab: Es ist eine heruntergekommene Junggesellenbude, und er hat das Geschirr unabgewaschen in den Schrank gestellt.
Der Vermieter fuhr Motorrad. Sah lässig aus. Hier fahren viele – das Wetter ist genial: Trocken und heiß, laue Sommerabende. Da war er wieder, der Traum vom Motorradführerschein. Ich sehe mich schon auf einer schweren Maschine durch die Stadt donnern, hinauf in die Berge und den Sonnenuntergang über Meer im Rücken. Der Traum wird je unterbrochen, an der Kreuzung direkt vor uns kracht es: Ein Motorrad ist auf ein Auto aufgefahren, der Beifahrer wird durch die Luft geschleudert, uns direkt vor die Füße. Der Fahrer liegt hinter dem Auto. Unbeweglich. Meine Freundin eilt sofort hin, ebenso ein paar andere Passanten. Ich bin unfähig, mich zu rühren. Zitternd lehne ich an der Ampel. Jemand hilft dem Beifahrer auf. Irgendjemand hat die Ambulanz gerufen. Der Fahrer liegt nach wie vor unbeweglich da. Als die Krankenwagen kommen, gehen wir.
Mein Traum ist abrupt beendet. Ich werde hier kein Motorrad kaufen. An der nächsten Ecke übergebe ich mich.

Sonntag, 2. August
Kanada wirkt. Als meine Freundin fragt, ob wir nicht mal nach Busplänen, Fahrplänen etc. schauen sollen, winke ich ab. Planung? Ach was. In Deutschland bin ich vor lauter Aufregung vor einer Reise manchmal krank geworden, hier winke ich ab und sage nur: „Lass uns dann einfach mal losgehen.“
Warum sich einen Kopf machen. Es wird einen Bus geben. Und eine Fähre. Und dann werden wir ankommen. Wir nehmen die örtlichen Busse. Nicht die schnellste Art zu reisen, aber mit Abstand die billigste. Und 5 Stunden später sind wir im Hostel. Dort kriege ich erstmal einen Anfall: Das Zimmer ist so groß wie das Bett. Und da sollen wir 2 Wochen wohnen? Undenkbar. Am nächsten Tag können wir in ein größeres Zimmer ziehen – in das passen immerhin noch ein Tisch und zwei Stühle. Auf den Tisch passen unsere beiden Laptops, und zwar genau.

2 Wochen Hostel
Am Anfang finde ich es anstrengend, dann ok, dann wieder anstrengend. 2 Wochen sind lang, wenn man sich Bad, Küche, Lounge mit Fremden teilen muss. Mit immer anderen Fremden. Nie ein sauberes Klo, nie ein sauberer Teller. Immer muss man alles putzen, bevor man es benutzt.
Andererseits herrscht eine nette, entspannte Stimmung im Hostel. Wenn man eine Weile da ist, sieht man die Leute kommen und gehen. Die meisten sind auf großer Kanada-Reise, 4000 km in 10 Tagen, das ist so der Schnitt. Man schaut in müde Gesichter, am nächsten Tag geht’s weiter, man muss früh raus, schließlich will man was erleben. Ein Bier reicht, wirklich, nein danke, wir gehen besser schlafen.
Und dann gibt es die, die hier länger bleiben. Ein paar Stunden Arbeit im Hostel, und man hat ein freies Bett. Oder Essensgutscheine. Manche sind schon seit Monaten hier. Am Abend gibt es dann bei vielen Runden Bier die üblichen Hostel-Lebens-Weisheiten:
– Du musst lieben, was du tust! Dann wirst du keinen Tag arbeiten …
– Du bist nicht zufrieden mit deinem Leben, deshalb bist du ausgestiegen … ich sehe es dir an. Hör auf dein Herz, und du wirst den richtigen Weg finden.
– Du musst einfach alles auf die zukommen lassen. Es wird sich alles fügen.
– Global gesehen sind wir reich: Wir haben zu Essen, ein Bett und sauberes Trinkwasser. Und wir sind sicher, dass wir die Nacht in Sicherheit verbringen können. Es wird uns nichts geschehen …

Ich hasse Sätze, die mit „Du musst …“ anfangen. Da hilft dann auch der Krug Bier nicht. Aber das sage ich hier besser nicht. Ich lächle, und nicke.
Wir treffen nette Leute.
Eine 50-jährige Farmerin aus Ontario, die uns kräftig einlädt, da sie mal eine nette Deutsche kannte. Sie besucht hier ihre Cousins, die sie noch nie gesehen hat, aber noch einmal sehen will, bevor die Familie ausstirbt. Die Cousins sind alle schon über 60, sie selbst hat Krebs. Früher hat sie Cannabis angebaut, die Dealer kennt sie immer noch – und sie erzählt lustige Anbau-Geschichten.

Wir treffen einen 47-jährigen ehemaligen Bankdirektor aus Manchester, der ausgestiegen ist, weil ihm der Sinn abhanden gekommen war. Drei Stunden Hausarbeit im Hostel für das Bett, und den Lebensunterhalt finanziert er sich durch kleinere Deals. Er lebt seit 6 Monaten in diesem Hostel, wo es danach hingeht, weiß er nicht. Irland?

Wir treffen eine Mitvierzigerin, eine Krankenschwester, die auch gerade ohne Wohnung und Hausrat ist. Sie reist auf Jobsuche durch Kanada, und hofft, in Victoria was zu finden. Sie sieht unglücklich aus, und ich glaube, sie wird es schwer haben.

Am Wochenende geben wir unser Bestes und zeigen sportliche Begeisterung: Wir gehen zu einem Drachenbootrennen.
Es ist ein lustiges Event, allerdings zählt hier mehr die Begeisterung als die sporltiche Leistung. Die chinesische Mannschaft, die den Wettkampf mit Kampfschrei und gleichmäßig vorgetrommelten Paddelrhythmus überaus ernst nimmt und haushoch gewinnt, wird mit kühlem Schweigen begrüßt, während die buntgemischte Truppe der „Ageless Wariors“ (Alterlosen Krieger) jubelnd und klatschend willkommen geheißen wird.
Der Höhepunkt sind natürlich die Olympia-Vorbereitungen. Auch hier! Und jetzt!
Ja, sie laufen auf Hochtouren und wir sehen einen Infostand für den olympischen Fackellauf. Er beginnt am 30. Oktober hier in Victoria und endet im Februar in Vancouver. Natürlich gibt es ein üppiges Rahmenprogramm, man will ich nicht lumpen lassen – die Welt schaut schließlich zu. Fasziniert starre ich die Fackel an, mit der das Feuer für die olympischen Spiele dann durchs Land getragen wird. Schnell kommen wir mit den Männern ins Gespräch und sie erklären uns, dass das Feuer in Sauerstofftanks vom griechischen Olympia nach Victoria auf Vancouver Island geflogen wird, zur Sicherheit in mehreren Gefäßen, und dann durchs Land getragen wird. Es haben sich Hunderte beworben, und wer ausgewählt wurde, darf die Fackel für eine Strecke von 800 m tragen. Oder waren es 300 m? Die Männer sind sich nicht sicher, und wir lachen alle. Wer die Fackel als Erster tragen darf, steht wohl auch noch nicht fest – zumindest wird es noch nicht verraten. Ob ich sie mal anfassen will? Diesmal kriege ich leuchtende Augen und nehme die Fackel in die Hand. Sie ist groß und irgendwie auch ziemlich unhandlich und schwer.
Foto?
Na klar! Wir dürfen fotografieren. Ich versuche eine dynamisch wirkende Pose, ein unverkrampftes Gesicht und recke das Teil in die Luft. Meine Freundin macht zaghaft zwei Fotos, die Kamera trage ich fortan stolz wie eine Trophäe.
Schade, dass die Fackel noch nicht brannte…

Die netteste Begegnung haben wir allerdings mit dem kasachischen Koch der Canadian Coast Guard. Wir lernen ihn in der Küche kennen. Er kocht Krabben. Im Hostel! Ich starre ungläubig in den Topf. 8 Minuten und ein bisschen Salz. Klingt einfach, und ich frage ihn spontan, ob ich anheuern kann. Kann ich nicht, die Küstenwache nimmt nur Wissenschaftler mit. Ich murmle was von Presse.
Er isst, und verschwindet. Ich lese Zeitung und im Speiseraum verdienen sich ein paar Musiker ihre Unterkunft durch Gesang. Manche sind ganz gut, andere eine Herausforderung. Meine Freundin geht ins Zimmer, ein Spanier versucht ein Gespräch mit mir über japanische Kampfsportarten und ich lese die Arbeitslosenzahlen im Lokalteil. Leichter Abfall, für Berufsanfänger bleibt die Situation schwierig. Als ich aufschaue, sehe ich den schönen Kasachen. Er lächelt. Ich lächle auch. Er lächelt noch mehr und winkt mich zu sich. Ich entschuldige mich beim Spanier mit einem halbherzigen „excuse me for a moment“ und dränge mich an die Bar, wo mir der Kasache Videos von Schiff & Arktis & Eisbären zeigt. Er ist frisch geduscht und umgezogen und ich quetsche mich mit schlechtem Gewissen hinter ihm an die Bar und blockiere damit einen der kostbaren Barplätze – Alkohol wird nur an 10 Leute an der Bar ausgeschenkt, für mehr hat das Hostel keine Lizenz. Ich kann da sitzen und nichts trinken, das ist kein Problem, aber jemand anderes, der trinken möchte kann nun eben nicht hin. Der Kasache trinkt. Ich habe kein Geld bei mir. Als ich sehe, wie Gäste weggeschickt werden, ducke ich mich hinter seine Schulter. (Sie müssen sich an die Tische neben der Bar setzen: Das ist das „Restaurant“ – und man muss etwas essen, um zu trinken. Und seien es nur ein paar Chips.)
Seine Videos sind beeindruckend, und der Mann ist es auch. Wir plaudern und das macht richtig Spaß. Natürlich fragt auch er mich sofort, ob ich nach Whistler gehe. Ich zögere einen Moment, dann sage ich, dass ich keine Tickets habe, aber dennoch hin will. Er nickt. „Das wollen alle. Die Stimmung wird toll.“ Ich nicke auch. Der Mann redet tatsächlich von Olympia. Die Preise für die Tickets der Eröffnungsveranstaltung liegen derzeit bei 1.600 Dollar (etwa 1.100 Euro), die Veranstaltungen sind sowieso ausverkauft und so muskulös und sportbegeistert wie er bin ich schon lange nicht. (Auch wenn er schnell weitergespult hat, auf den Videos sah man ihn im Eiswasser der Beringstraße planschen … Wow!)
Als sein Rechner keinen Strom mehr hat, dreht er sich einmal mehr und diesmal recht abrupt um und mir fällt plötzlich und siedendheiß auf, dass mein „ich ducke mich hinter seiner Schulter“ inzwischen eher ein „mein Kinn liegt auf seiner Schulter“ geworden ist. Ich werde rot, und er murmelt etwas von „Kabel holen“, was ich nicht verstehe und mit „Bett“ beantworte. Bett? Ich werde noch röter und noch konfuser und denke an den Masseur und meine Unfähigkeit, klug mit Männern zu kommunizieren. Ich verabschiede mich schnell. So schnell, dass es fast schon unhöflich ist. Er ist völlig irritiert.
Außer, dass sein Schiff am nächsten Morgen den Hafen verlässt, weiß ich nichts von ihm. Noch nicht einmal seinen Namen.
Als wir abreisen, hänge ich an der Pinnwand im Hostel einen Zettel auf. Falls der schöne Kasache von der Canadian Coast Guard hier noch einmal vorbeikommt, findet er meine E-Mail-Adresse.
Natürlich, klar, das hätte man auch einfacher haben können.

Sonntag, 16. August
Wir fahren zurück nach Vancouver, wieder ganz entspannt mit Bus und Fähre und ohne weitere Planung. Allerdings kommt mir mein Rucksack erheblich schwerer vor als auf der Hinreise. Als wir in der Nähe unserer neuen Wohnung aussteigen, habe ich das Gefühl, zusammenzubrechen. Ich murmle etwas von „Internet“ und stürze ins nächste Cafe. Es ist ein Starbucks, und es ist auf der gegenüberliegenden Seite. Bevor meine Freundin etwas sagen kann, habe ich meinen Laptop aufgeklappt und fummle mich hektisch durch ein paar Manuskripte. Sie seufzt, und versucht den Hausmeister anzurufen. Es gibt keinen Termin für die Schlüsselübergabe, wir sollen uns einfach melden, wenn wir da sind. Öffentliche Telefonzellen sind rar in Kanada. Der Junge hinterm Tresen schaut meine Freundin auf ihre Frage hin völlig fassungslos an, dann reicht er ihr sein Handy. Der Hausmeister startet sofort wieder eine südeuropäische Imponier- und Charmeoffensive und holt uns mit seinem Auto ab. Geht doch! Ich atme auf und klappe meinen Laptop wieder zu.
Der Hausmeister hat uns eine Wohnung zur Zwischenmiete organisiert, in einem anderen Gebäude der gleichen Wohnungsgesellschaft. Die Wohnung ist ab 1. September vermietet, im August sollte sie renoviert werden. Man ist schneller fertig geworden, und wir finden hier Unterschlupf. Die Wohnung ist schön – doch vor allem ist sie eins: leer. Und es ist Sonntagabend. In einem Anflug von Panik frage ich den Hausmeister, ob hier noch irgendein Laden offen hat. (Hunger! Durst!) Klar, der Supermarkt um die Ecke und etwas weiter entfernt noch eine Art Drogeriemarkt.
Im Supermarkt kriege ich wieder den üblichen Schock über die Preise. Das einzige, was billig ist, ist der durch Überfischung vom Aussterben bedrohte Lachs. Trotz schlechtem Gewissen schlage ich zu: 1,7 kg für 7 Dollar (etwa 5 Euro).
Danach gehen wir in die Drogerie: Wachmittel, Putzmittel, Besteck, einen Wok (den kann man sowohl als Topf wie auch als Pfanne benutzen und er ist zudem noch billiger) und eine Auflaufform (für den Fisch). Das Service bringen wir an der Kasse zurück: Es ist doch nicht im Sonderangebot, das Preisschild hing falsch. Ich hätte es trotzdem genommen, meine Freundin findet es plötzlich „doch nicht so hübsch“. Als wir draußen sind, bereue ich es sofort, drücke ihr meine Tüten in die Hand und gehe noch einmal hinein. Ich kaufe drei Tassen, die sind im Sonderangebot. Ich will meinen Frühstückstee.
Das Abendessen wirkt japanisch, bilde ich mir zumindest ein: Der Besteckkarton ist der Tisch, das schönste der Geschirrtücher die Tischdecke. Gegessen wird direkt aus der Auflaufform (Lachs!) und im Wok habe ich Reis gekocht. Wir haben Musik und eine Kerze. Nicht schlecht für einen ersten Abend.

Montag, 17. August
Ich habe die Nacht in einer Art Meditationsmodus verbracht. Wie im Entspannungsseminar gelernt, habe ich immer wieder vor mich hingemurmelt: Ich bin ganz leicht, ich gebe mein Gewicht an den Boden ab. Ganz leicht…
Bei der Nachmittagsentspannung auf dem Sofa hat der Spruch geholfen, heute weiß ich nur eins: Ich will ein Bett.
Meine Freundin erinnert mich jedoch kurz an die Prioritäten und wir gehen zuerst zur Bank (liegt sowieso auf dem Weg) und vereinbaren dort einen Termin.
Dann suchen wir die Matratzenläden. Die Adressen hatte ich bereits in Victoria im Internet recherchiert, die IKEA-Preise auch. IKEA gibt es hier auch, doch es ist etwas außerhalb und man hätte ein Auto für die Rückfahrt mieten müssen. Der erste Laden war teuer, der zweite viel zu teuer und der dritte konnte mit den IKEA-Preisen gut mithalten. Wir liegen Probe, diskutieren, rechnen, überlegen. Als der Verkäufer etwas von zwei Wochen Lieferzeit murmelt, kürze ich die Diskussion ab und frage, was er auf Lager hat. Die Auswahl ist übersichtlich, aber es ist okay. Wir tragen eine Matratze hinaus. Er bietet uns zwar an, ein Transporttaxi zu rufen, aber ich fahre den Sparkurs: Was wir an der Matratze „draufgelegt“ haben, will ich beim Transport wieder reinholen. Wir laufen! Es ist nicht weit, aber es geht bergauf und das Teil ist schwer. Meine Freundin ist kreativ: Wir tragen das Teil auf dem Kopf.
Als nächstes geht es in den Bettenladen, der uns vom Matratzenladen empfohlen wurde („Der passt zu eurem Budget…“). Leider ist er doch eine Ecke weg und mein Vorschlag, zu laufen, wird kategorisch abgelehnt. Ich willige ein. Wenn wir uns in dem Laden flott entscheiden, reicht das Ticket für Hin- und Rückweg und für einen weiteren Schwertransport reicht man Enthusiasmus doch nicht. (Das Ticket ist 1, 5 h gültig). Wir sind schnell, und es gibt sogar die Bettwäsche in der Lieblingsfarbe. Kostet ein paar Dollar mehr, aber dafür haben wir ja schon beim Bus gespart, zumindest fast. Danach fliegt alles in die Waschmaschine – und schon sehe ich der Nacht durchaus gelassen entgegen.

Dienstag, 18. August
Kontoeröffnung.
Wir brauchen ein kanadisches Konto, damit die Miete überwiesen werden kann. (Kontinentalüberweisungen kosten ein Vermögen).
Die Beraterin ist unglaublich nett und eigentlich ist alles völlig problemlos, ich stolpere nur über die Fachbegriffe, habe Kopfschmerzen und bin müde. Als wir nach zwei Stunden fertig sind, bin ich kurz davor, mit meiner Freundin einen Streit anzufangen oder einfach nur so in Tränen auszubrechen. Ich entschuldige alles mit dem Klimawechsel von Victoria nach Vancouver, meine Freundin führt mich einfach ins nächste Kaffee. Eine Kleinigkeit zu essen und vor allem etwas zu trinken wirken Wunder. Ich bin stolz auf uns, dass wir ein Konto eröffnet haben, und zur Belohnung kaufe ich noch einen Drucker. Theoretisch kann er auch scannen und kopieren (wenn ich noch herausfinde, wie das funktioniert) und der Karton ersetzt die Besteckkiste als Tisch.
Am Abend wollen wir uns noch einmal etwas Schönes gönnen und gehen hinunter zum Strand, Kitsilano Beach. Die Aussicht ist fantastisch, und die Abendstimmung ist es auch. Wir sind glücklich, dass wir hier sind, und noch glücklicher, dass wir bald nur 2 Straßen vom Strand entfernt wohnen werden. Wir laufen an „unserem“ Haus vorbei. Es ist eine schöne Ecke hier, nette Häuser, hübsche Vorgärten. In einem der Gärten wuchern Rosen, Phlox und Clematis. Ein Mann steht hinter der Blütenpracht, gießt und grüßt uns. Er heischt nach Bewunderung für seinen Garten – und die kann er haben. Sein Gärtner hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Seine Begleiter kichern, und er nimmt`s sportlich und lädt uns zum Wein ein. Wir trinken, und lernen einen schwulen Hochzeitsfotografen, der seit 10 Jahren in Mexico lebt (dort ist das Licht besser), kennen, eine Maskenbildnerin, die jetzt im Reisebüro arbeitet, und einen amerikanischen Republikaner (den Gartenbesitzer), der sein Geld irgendwie mit „Chemie“ verdient. Es ist nicht die erste Flasche, die sie trinken, und sie sind begeistert von unserem Kanada-Enthusiasmus. Nachdem wir die Email-Adressen ausgetauscht haben („Wie? Ihr habt echt kein Telefon?“) lädt uns der Fotograf zum Essen ein. Der Republikaner wird am Ende zahlen, und er ist echt sauer, dass wir seine eindeutigen Angebote eindeutig ablehnen. Er hätte die Reisekauffrau fragen sollen, sie hat den ganzen Abend versucht, ihn anzubaggern, was er jedoch geflissentlich ignoriert hat.
Wir haben denselben Heimweg wie sie, und als wir uns verabschieden, verabreden wir uns, mal tanzen zu gehen.
Natürlich ohne die Männer.

Mittwoch, 19. August
Wir haben einen Tisch (oder so was ähnliches), ein Bett, einen Drucker und drei Tassen und beschließen, dass wir genug haben und lieber wieder arbeiten. Meine Freundin geht in die Bibliothek und ich ins Schwimmbad. Stolz trage ich meinen in Victoria neu gekauften Badeanzug, mit dem ich mich ähnlich kurvenreich wie Marilyn Monroe fühle. Also, mindestens so. Ich fühle mich schön, jedenfalls so lange, bis ich ins Schwimmbecken gehe. Weit ausgeschnittene Neckholder sind furchtbar unpraktisch beim Rückenschwimmen, beim Brustschwimmen sowieso, und außerdem tragen alle anderen Ganzkörperneoprenanzüge, wahrscheinlich damit sie durch den verringerten Widerstand der glatten Oberfläche noch schneller durchs Wasser gleiten können. Dazu gibt es windschnittige Badekappen, Ohren und Nase sind verstöpselt und am Beckenrand stehen die Wasserflaschen. Die meisten sehen aus, als würden sie in irgendeinem Wettbewerbsvorbereitungsmodus schwimmen: Schnell und zielstrebig.
Das Schwimmbecken ist riesig und unregelmäßig oval, sodass ich ständig die Richtung verliere und das Gefühl habe, im Kreis zu schwimmen. Also versuche ich mich an den schwarzen Linien am Beckenboden in der Mitte des Beckens zu orientieren. Nach wenigen Schwimmzügen und mehreren Remplern macht mich ein Mann darauf aufmerksam, dass ich völlig falsch schwimme: Man schwimmt auf der einen Seite hin, auf der anderen zurück (also praktisch im „ovalen“ Kreis) und in der Mitte ist die durch zwei schwarze Striche markierte „speed lane“ (Rennstrecke) für die sportlichen Schnellschwimmer. Ich nicke, bedanke mich und schwimme fortan immer brav an den äußeren Rändern und erspare mir so weitere böse Blicke und blaue Flecken, erkenne jedoch andere Touristen sofort. Die Bahnen sind unendlich lang und man hat – zumindest in meinem Tempo – beim Brustschwimmen einen fantastischen Blick auf die Berge und auf Downtown, davor liegt das Meer (was man nicht sieht) und beim Rückenschwimmen sieht man die Möwen über einem kreisen. Ich bin begeistert und ziehe fleißig Bahn um Bahn. Nach einer Stunde bin ich erschöpft und fange an zu frieren. Etwas verwundert über mich selbst (normalerweise bringt mich jede Form von irgendwie sportlich anmutender Aktivität eher ins Schwitzen) gehe ich raus und ziehe mich um. Im Spiegel wird mir das Desaster schnell klar: ich habe einen Monster-Sonnenbrand. Na klar, es ist ja ein Freibad … blauer Himmel und knallende Sonne.
Auf dem Heimweg überlege ich, wie ich meiner Freundin den Kauf eines Ganzkörperneoprenanzuges erklären könnte, kaufe Mehl und Zucker und träume von Pfannkuchen, bis ich an der Ecke Wladimir kennen lerne.
Wladimir ist ein russischer Student, der seit 4 Jahren in Vancouver lebt und als Sommerjob Telefonverträge anbietet. Es ist echt ein gutes Angebot, besser als alle die ich bisher im Netz gefunden habe. Ich unterzeichne, und er bietet mir liebenswürdigerweise an, meine Tüten nach Hause zu tragen. Ich überlege, ob ich ungeschminkt und mit Sonnenbrand tatsächlich schon so alt aussehe, vermute dann aber, dass sein Enthusiasmus wohl eher auf die Erwähnung meiner geplanten Pfannkuchen zurückzuführen ist. Ich bin kurz versucht, sein Angebot anzunehmen. Dann fällt mir jedoch wieder unsere Wohnungsausstattung ein: Wir haben keine Teller. Keinen Tisch. Keine Stühle.
Meine Freundin bringt von ihrem Tag in der Bibliothek zwei Schalen mit – jetzt gibt es zum Frühstück Müsli und Tee. Und zwar gleichzeitig.
Die Pfannkuchen serviere ich auf einer mit Alufolie umwickelten Pappe.

Donnerstag, 20. August
Hausmeisterbesuch. Schließlich gibt es noch ein bisschen Papierkram und die Augustmiete muss auch noch bezahlt werden. Er schaut sich um, taxiert unsere Einrichtung, und fragt, wie wir am 1. September umziehen wollen. Ich schaue mich auch um. Es ist echt nicht weit und wir haben echt nicht viele Sachen. Also sage ich tapfer „laufen“. Meine Freundin kriegt schreckgeweitete Augen, der Hausmeister verschluckt ein Lachen. Er holt uns mit dem Auto ab. 10 Uhr. Pünktlich.
Manchmal finde ich das südeuropäische Machogehabe richtig klasse.

Freitag, 21. August
Meine Freundin wird unruhig, sie will sich endlich bewerben. Die Unterlagen sind vorbereitet, was fehlt sind die Bewerbungsmäppchen. Seit zwei Tagen suchen wir nach einem Laden, der Schreibwaren verkauft. Wir haben mehrere entdeckt, aber keiner führte Klemmmappen und wenn, dann keine „hübschen“. Letztendlich landen wir bei „Chapters“, einer Art Buchkaufhaus, vergleichbar mit Dussmann oder Hugendubel.
Es gibt eine umfangreiche Papeterieabteilung, aber wieder sehen wir keine Bewerbungsmappen. Ich frage eine Verkäuferin. Sie bewundert meine Kette und meine Freundin wiederholt meine Frage. Die Verkäuferin bewundert nun ihre Kette und holt den Manager. Er fragt, wofür wir uns bewerben wollen, und meine Freundin beschreibt kurz ihren beruflichen Hintergrund. Er erklärt, dass wir zu einem guten Zeitpunkt gekommen sind, da sie derzeit Leute fürs Weihnachtsgeschäft und die Olympischen Spiele einstellen. Ich verziehe die Nase: Olympia im Buchladen?
Meine Freundin redet tapfer weiter. Als ich am Ende noch einmal nach Bewerbungsmappen fragen will, boxt sie mich bös in die Seite.
In der zweiten Papeterie passiert das zweite. Auf die Frage nach Bewerbungsmappen wird wieder auf die Managerin verwiesen, doch die sei gerade nicht da.
Im dritten Laden gehen wir offensiver vor. Der Junge hinter der Theke ist definitiv nicht der Manager und ich frage ihn ganz direkt, wie man sich in Kanada bewirbt, wenn man nirgends Bewerbungsmappen bekommt. Er zuckt die Schultern: „… man spricht mit dem Manager.“
Meine Freundin besteht auf ihren Mäppchen und beschreibt ihm, wie sie aussehen sollten. Im Regal liegen keine. Er schaut im Computer nach. Dann schickt er den Kollegen in den Keller. Dort liegen noch drei. Wir nehmen alle.
In der Stadtbibliothek besuchen wir einen Bewerbungsworkshop.

Dienstag, 25. August
Kontakte
Nach der Lektüre des neu gekauften „Small-Talk-Ratgebers“ für Kanadier fühle ich mich für Gespräche mit Einheimischen gewappnet. Ich schaue frohgemut in die Runde und versuche ab und an ein Lächeln. Wir arbeiten in der Zentralbibliothek in Vancouver Downtown, es ist ein angenehmes Arbeiten mit Wireless Internet, großen Tischen von denen viele – im Gegensatz zu den Stadtbibliotheken – mit Stromversorgung ausgestattet sind.
Als ich lächelnd in meine „Mittagspause“ gehe, werde ich auf der Treppe angesprochen. Der Mann ist Mitte 30, sieht nicht schlecht aus und probiert ein einfaches „Hello“ auf der Rolltreppe. Ich nicke und erwidere es. Wir sind in der 5. Etage, in der 4. versucht er es erneut, diesmal mit „Hello, how you´re doing?“ Ich habe ihn gegrüßt, finde, dass ein Blick, ein Lächeln und ein kurzer Gruß für einen Unbekannten reichen und beschließe, ihm nicht weiter zu antworten. Er wiederholt die Begrüßungsformel erneut auf allen Rolltreppen bis zum Erdgeschoß. Auf der Straße vor der Bibliothek kann ich ihn nicht länger ignorieren und muss mich doch zum Gespräch entschließen. Durch die Ratgeberlektüre klug geworden, bin ich direkt und sage, dass ich Hunger habe und einfach etwas essen möchte. Direkter als es der Ratgeber ankündigt, lädt er mich zum Essen ein. Ich versuche, abwartend zu reagieren und überlege, ob sich nicht eine unverbindliche Möglichkeit finden ließe, Essengehen und Gespräch ohne Einladung zu kombinieren. Er erklärt mir, dass er aus Montreal ist, hier Freunde besucht und bleibt dann bei seinem direkten Vorgehen indem er einen anschließenden Spaziergang an der „waterfront“ vorschlägt. Nein! Ich entschließe mich für einen ebenso direkten Gesprächsausstieg und er muss spontan in den gerade passierten Supermarkt. Ich gehe pro forma bis zur nächsten Kreuzung weiter, um dann in die Bibliothek bzw. eines der Kaffees vor der Bibliothek zurückzukehren.
Als ich erneut am Supermarkt vorbeilaufe, kommt er gerade heraus und wir studieren beide kurz und intensiv das Muster im unregelmäßig gepflasterten Vancouveraner Bürgersteig.
Am Abend lese ich weiter im Ratgeber. Es gibt noch viel zu lernen.

Mittwoch, 26. August
Wir bekommen eine Mail von der hanfanbauenden Farmerin aus Ontario, die wir im Hostel kennen gelernt haben. Sie hat sich in den „alten Freund“, den sie in Victoria besuchte, verliebt und plant die nächste Reise zu ihm. Erst für einen Monat, im Herbst dann für drei. Der Freund wohnt in einem umgebauten Schulbus. Sie lädt uns noch einmal ein, meine Freundin wiederholt per Mail die Gegeneinladung nach Vancouver.
Ich frage mich kurz, ob meine Freundin weiß, was sie da tut. Dann denke ich an die guten Anbauergebnisse der Farmerin und grinse gemütlich vor mich hin. Man sollte die Dinge in Kanada nicht zu ernst nehmen. Mir fällt ein, dass es hier immer wieder Debatten gibt, Hasch zu legalisieren. Dann würde er aber auch – wie alles – mit einer Steuer belegt. Eine Schachtel Zigaretten kostet so um die 9 Dollar, eine Unze bc bud (das feinste Kraut der letzten Ernte) 60 Dollar. Der Staat würde eine Menge Kohle machen…und es gibt viele, die großes Interesse daran habe, eine solche Entscheidung möglichst lange aufzuschieben. Ich verstehe, warum.


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